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Land der Krise

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FURCHE: Der Ungarische Ge-werkschaftsbund SZOT arbeitet zwar seit längerem gegen die Gleichschaltung, steht aber vor dem Dilemma, daß die besten Absichten zu scheitern drohen, wenn ein so stark zentralisiertes Modell sich zu demokratisieren beginnt.

SÄNDOR NAGY: Da gibt es nur eine einzige Lösung: Die Gewerkschaftsbewegung muß sich - Sowohl hinsichtlich ihrer Strukturen als auch hinsichtlich ihrer politischen Voraussetzungen - im Einklang mit den realen Wünschen ihrer Mitglieder von unten her neu organisieren. Das ist freilich leichter gesagt als getan. Ich bin mir dessen bewußt, daß all dies mit äußerst vielen Umwegen, Fallen und Irrtümern verbunden ist. Doch - realistisch gesehen - ist das der einzig gangbare Weg.

FURCHE: Zur Verwirklichung der Wirtschaftsreformen muß die Regierung zahlreiche defizitäre Unternehmen schließen. Das bedeutet Entlassungen. Die Möglichkeiten der Umschulung und der Arbeitslo-

senhilfe sind aber nach wie vor ungeklärt. Bald werden Massen vor einer unsicheren Existenz stehen. Ein Zögern der Regierung würde aber den Reformprozeß gefährden. Keine leichte Situation für die Gewerkschaft, der ein endgültiger Vertrauensverlust droht.

NAGY: Das ist ein wirkliches Dilemma. Ich muß hinzufügen, daß der Ausdruck „Massen“ wohl übertrieben ist. Wir müssen davon ausgehen, daß es bei uns zu Spannungen kommen wird (siehe Forgäcs-Interview in FURCHE 40/1989). Mehrere tausend werden davon betroffen sein. Die schwierige Situation wird aber nicht plötzlich auftreten. Wenn der Staat verschiedene Institutionen für die Beschäftigung ausbaut -einschließlich der Arbeitslosenhilfe -, dann, finde ich, wird der größte Teil der Betroffenen von der Krise verschont bleiben. Die Gewerkschaften sehen es als ihre Berufung an, hier positiv mitzuwirken.

FURCHE: Es ist doch fünf Minuten vor zwölf. Mit der Errichtung von Umschulungsstätten wurde noch nicht einmal begonnen.

NAGY: Die Sache sieht folgendermaßen aus. Es gibt einen Fonds für Beschäftigungspolitik mit 2,5 Milliarden Forint. Die Umschulung geht tatsächlich nur zögernd vonstatten. Das ist ein Gebiet, wo wir offensiver auftreten wollen - mit unseren eigenen Schulungsinstitutionen und Gebäuden. Das darf in der heutigen Lage nicht unterschätzt werden.Dann gibt es auch einen Startkredit für jene, die sich nach der Entlassung selbständig machen wollen, zum Beispiel im Bereich der Landwirtschaft. Die Summe beträgt 300.000 Forint. Schließlich wird auch am Konzept der Arbeitslosenhilfe gearbeitet. Im Gegensatz zur Regierung befürworten wir das skandinavische Modell, bei dem die Betonung auf Umschulung gelegt wird.

FURCHE: Die Regierung muß sich von jener Wirtschaftspolitik absetzen, die diese unselige Lage hervorgebracht hat. Was kann die Gewerkschaft hier tun?

NAGY: Wir haben in letzter Zeit die Regierung schon öfter zu dem-entsprechenden Schritten veranlaßt.

Auf der letzten Gewerkschaftskonferenz wurde deutlich, daß die Gewerkschaftsvertreter diese Abgrenzung von der Regierung eindeutig wünschen. Das könnte dann die politische und psychische Voraussetzung dafür bieten, daß wir zu einem Konsens kommen.

FURCHE: Sie fordern den Bruch mit der wirtschaftlichen Vergangenheit?

NAGY: Gewissermaßen ja. Die Abrechnung kann freilich nie hundertprozentig sein. Man kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, doch man kann sich von früheren Fehlern abgrenzen. Und dieser Prozeß ist in Ungarn im Gange. Der Weg liegt freilich noch vor uns.

FURCHE: Wann aber folgen Taten? Mit Versprechungen kann das Volk nichts mehr anfangen.

NAGY: Wenn die Gesellschaft nicht sieht, daß es zu einer Abgrenzung von der Vergangenheit kommt, wird sich hier eine Unzufriedenheit herausbilden, die die Arbeit der politischen Führung unmöglich macht. Die Gewerkschaften - ich wiederhole das - werden mit ihren Mitteln auf jeden Fall zur Zäsur beitragen.

Ich erwähne absichtlich kein konkretes Mittel wie beispielsweise den Generalstreik, weil er zur Zäsur nicht notwendig ist. Wir werden mit politischen Mitteln, mit Argumenten, mit der Kraft der Mitglieder unserer erneuerten demokratischen Gewerkschaften das Auskommen finden.

Mit dem Generalsekretär des Ungarischen Gewerkschaftsbundes SZOT sprach Gabor Kis-zely.

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