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Mein letzter Mohikaner

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Im feierlichen Schweigen endloser mächtiger Wälder liegt weit in den Jagdgründen des fernen Westen der See „Glimmerglas". Ich sehe seinen gläsernen grünen Spiegel, als ob es gestern gewesen wäre. So still ist es da, daß man das Tropfen des Ruderblatts hört. Ich sehe den schmalen Streifen Sand und Fels, der zwischen dem Dickicht des Urwalds und dem Wasser entlang läuft, und die Häupter ferner Berge

über den Wipfeln, in denen sich helleres Laub mit dem tiefen Grün der Nadelbäume mischt: ich atme die starke, reine Luft.

Dort ist der Stein, von dem Chingachgook in das Boot sprang, dort, ganz versteckt, der Ausfluß des Sees, in dem unter den großen, überhängenden Bäumen damals die „Arche" verborgen war. Alles erkenne ich wieder wie in einer Heimat, so unvergessen, als ob ich gestern dort gewesen wäre.

Groß ist der Zauber des Worts. Was für herrliche neue Räume haben sich damals aufgetan, als ich am Bauch unter dem Waldhimmel des Christbaums liegend zum ersten Mal in die Tiefen mir unbekannt fremd klingender Worte blickte: „Wildtöter:', „Huronen", „Delawaren", „der flinke Hirsch". Damals hatte ich noch nie einen wirklichen See gesehen und sah ihn doch, durch den Zauber der Worte, so wirklich und unverwechselbar wie kaum einen später in der Wirklichkeit - nur den „Königsee". Und wie erstaune ich

noch heute, nach vierzig Jahren, wenn ich dort, wo ich viele Seiten der Schilderung vermutete, nur drei kurze Sätze finde:

„Wildtöter brach in einen Ausruf des Erstaunens aus. Vor ihm lag ein großes, stilles, durchsichtiges Gewässer, dessen Ufer unregelmäßig von Buchten und Landspitzen gebildet waren; im Hintergrund zeigten sich bedeutende Anhöhen, die ganze Gegend war in feierliche Stille gehüllt. ,Das ist großartig und erhaben', sprach endlich Wildtöter."

Groß ist der Zauber der Worte. Aber damit er ganz wirken kann, müssen, wie bei jedem wahren Zauber, viele andere, nur scheinbar unbedeutende Dinge eingehalten sein. Nicht alle Bücher — lange nicht alle — haben die Kraft, einen wie auf einem Zaubermantel so in eine Gegend zu tragen, daß man sie mit Augen sieht. Es gibt Bücher, die vom ersten Satz, ja vom Einband an nur ödigkeit und Verwirrung verbreiten, und bei denen man sich vergeblich das vorzustellen versucht, wovon sie sprechen. Nur dieser „Lederstrumpf", den ich zu meinem achten Weihnachtsfest bekam, hatte diese Kraft, mir seine Landschaft zu zeigen, und keinem anderen, den ich später in die Hand nahm, ist diese Verzauberung mehr gelungen.

So graugrün muß sein Einband sein wie die Rinde der Waldbäume — darauf Lederstrumpfs Profil mit dem kühnen Schlapphut und dem indianischen Jagdrock —, so rot der Schnitt seiner Buchblätter wie das Herbstlaub und das Blut, das so oft im Buch vergossen wird. So schwer muß der dicke Band sein — endloses Lesen versprechend —, daß ich ihn kaum in der Hand halten kann und ihn aufgestützt auf den Ellenbogen lesen muß, und so zart die Farben der wenigen Bilder, wie der herbstliche Hauch des Waldes auf dem einen Bild, wo Wildtöter, im Boote kniend, den fliehenden Hirsch schießt. So, genau so, müssen die zierlich geschnörkelten Buchstaben aus klarem Stahl sein — nicht größer und nicht kleiner, nicht dünner und nicht dicker — und so der altertümliche Duft des starken Papiers.

Und noch etwas muß dabei sein, um so zu verzaubern, wie das mein Lederstrumpf konnte. Was das ist, kann ich nicht sagen, aber ich weiß und kenne es genau. Im „Robinson Crusoe" - meinem ersten Buch, das ich über alles liebe — ist es noch nicht. Den Namen dafür wird mir erst viel später Stefan — Genosse so vieler Zauberfahrten — nennen: es ist: „das Rauschen" (manche nennen es wohl auch, ungenauer, die Poesie).

Auch nicht in allen Teilen des „Lederstrumpf" ist es da - die späteren machen mich fast traurig, weil es da fehlt -, ganz nur im „Wildtöter" und im „letzten Mohikaner". Aber es wird nicht wiederkommen in dem „Sohn der Wildnis", in dem „Gefangenen der Aymaras", im „Enkel der Könige" — was für herrliche, rauschende Namen für Bücher! — und ganz vollkommen, als ob ich alles selbst erlebt hätte, wird die Magie wieder sein beim ersten Lesen der „Schatzinsel" mit dem alten Duft ihrer holzgeschnittenen Bilder.

Da steht auf den felsigen Klippen Englands, an der versteckten Bucht des großen Weltmeers das alte kleine Wirtshaus: der „Admiral Benbow", umrauscht vom Meer und den Stürmen, von unheimlichen und seltsamen Begebenheiten. Ich rieche den Reif an dem bitterkalten Tag, als das Abenteuer begann, das Holz in der Küche, wo der „schwarze Hund" saß, ich höre das Klappern des Stocks, als der unheimliche Blinde zum erstenmal zu uns ins Haus kam. Was ist seither nicht alles geschehen! Jim Hawkins und John Silver, Squire Trelawney und Dr. Livesey mit ihren weißen Perücken, wo sind sie? An wie viele wirkliche Menschen, die mir begegnet sind, kann

ich mich längst nicht mehr erinnern, und wie gern, mit welcher Herzlichkeit denke ich an euch zurück.

Aber in den Büchern vergeht — und deshalb können sie gar nicht dick genug sein - die Zeit viel zu rasch. Zwar gehört auch das zu ihrem Zauber, daß eine Stunde wie viele Tage ist und ein Buch wie das Leben. Verlassen müssen wir den See Gümmerglas, wo Wildtöter und Chingachgook ihren ersten Ruhm erwarben. Verlassen müssen wir Bob Silver, der ein Schurke und doch so liebenswert und lustig war. Das Buch wird mit einem großen Seufzer zugemacht: es kommt die Seite, auf der „Ende" steht. Freilich kann man das Buch gleich wieder lesen und ich tue es auch, aber ganz so wie beim erstenmal wird es nie wieder sein.

In dem Herrlichen ist das Traurige, das den Zauber der Bücher ausmacht: die Vergänglichkeit. Alles, was in ihnen ist, vergeht so rasch: das Schönste-und Lebendigste, das Tapferste und Edelste. Aber in der reinen Trauer darum ist auch wieder etwas Herrliches, Gewaltiges und Befreiendes — wie ein Sturm —, das spüre ich gut, obwohl ich es zum erstenmal erfahren habe.

„Das goldene Zeitalter. Eine Kindheit" erscheint im kommenden Frühling im Piper-Verlag, München.

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