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Menschen in der Steppe

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Er stand am Fenster und schaute über die Ebene bis zu den Bergen, die weit weg lagen, im Morgenlicht blaugrau wie Wolkenbänke über dem Land. Es war Frühjahr, und die Steppe blühte; ein neuer Tag, ein neuer Frühling.

Schon von Ewigkeit her schien diese Gegend trocken und dürr zu sein, aber er konnte sich noch allzu gut an die Zeit seiner Kindheit und Jugend erinnern, als draußen vor dem Haus im Juni das gelbe Korn im warmen Ostwind Wellen schlug und der Mais so hoch stand, daß man aus einem Feld, hatte man sich darin verirrt, kaum noch herausfand. Aber dann war zuerst der Winterregen ausgeblieben und danach der im Frühjahr.

Kaum ein Jahrzehnt, und alle anderen hatten das ausgetrocknete Land bereits verlassen, waren in den Westen gezogen und dem Regen nach, bloß er und seine Frau waren geblieben im kleinen Haus; sein Brunnen war der tiefste rundum und gab weiterhin Wasser, wenn auch wenig, so doch genügend, um damit die Maisstauden hinter dem Haus zum Reifen zu bringen, dazu das Gemüse im Garten und die Kartoffeln, denn was brauchen schon zwei Leute — doch nur wenig, und das

Stellen von Fallen hatte man in der Gegend schon immer geübt. So gab es an manchen Tagen dann eine Taube oder gar ein Kaninchen, während die Teiche der Umgebung am einst sandigen Ufer von Jahr zu Jahr eine breitere Salzkruste trugen.

Warum sollte der Regen, den es früher in völlig genügender Menge zwischen Wochen des Sonnenscheins gegeben hatte, nicht wiederkommen? So hatten die beiden gedacht und waren im Haus und bei ihrem Brunnen allein im Land geblieben, während überall draußen von Jahr zu Jahr die Pflanzen spärlicher wuchsen, bis es zuletzt bloß noch das Dornengebüsch gab und den Kassa-Strauch mit seinen dickledrigen, graugrünen Blättern.

Um ihr Haus allerdings, aber mühsam aus dem Brunnen bewässert, gab es noch die Pflanzen, die einst wie selbstverständlich überall wuchsen, doch heute ohne die Fürsorge der beiden nicht eine Woche überlebt hätten.

Als dann nach dem Besuch eines Wanderhändlers einige Jahre vergangen waren, wußten sie schließlich, daß sie nun in der rundum ausufernden Steppe gefangen wären und jetzt nicht mehr zu erwarten sei, daß sie zu

Fuß fruchtbares und daher bewohntes Land noch erreichen könnten.

Ein Fahrzeug hatten sie nie besessen, und selbst als die Gegend noch bewohnt war, gab es bloß zwei oder drei Automobile im ganzen Land, aber die beiden hatten schon damals zu den Armen gezählt und kaum genug zum Leben gehabt. So war es auch jetzt still und karg in ihrem Dasein; der Gang zum Brunnen, das Heraufholen des Wassers, das Begießen der Pflanzen, die Ernte und die neue Aussaat — so verging der Tag.

Aber jetzt war vor Wochen ein Hauch von Regen gefallen, der die Steppe zum Blühen gebracht hatte, und am Dornengebüsch hingen plötzlich scharlachrote Glocken, während die wenigen Kassa-Sträucher übersät waren mit goldgelben Sternen.

Danach stand er von einem Augenblick zum nächsten kerzengerade und angespannt wie die Saite eines Bogens knapp vor dem Abschuß des Pfeiles. Aufmerksam horchte er und trat näher zum Fenster, um besser hören zu können, merkte plötzlich, daß, noch im Nachtkleid, die Frau neben ihm zum Fenster gekommen war und ebenfalls horchte. Sekunden später wußten sie, daß heute einer jener seltenen Tage im Jahr wäre, an dem für sie der Weg hinaus und ins Freisein geöffnet werden könnte.

Noch weit entfernt und sehr schwach war wieder einmal Motorengeräusch zu hören, war anfangs eher zu ahnen als zu erfassen, aber bloß eine Viertelstunde, so wußten sie, und das Geräusch würde wie immer so auch heute deutlicher werden und lauter.

Beide schlüpften in ihre Kleider und liefen hinaus. Er trug die Schaufel in der Hand, und sie hatte ein wenig Glut aus dem Ofen in eine Pfanne geworfen. Er schichtete rasch die alten Maisblätter aufeinander, und sie legte die Glut darunter. Als danach das Geräusch der Motoren laut war und deutlich, stieg bereits eine dicke Rauchsäule zum Himmel, während die schweren Automobile durch die Steppe fuhren. Oder waren das Flugzeuge? Aber der Himmel war leer - also doch Automobile, die irgendwo und vielleicht am Fuß der Berge vorbeifuhren.

„Einmal werden die doch unsere Rauchsäule sehen und kommen“, sagte die Frau, und ihre Stimme klang zuversichtlich, aber wie immer zuvor antwortete er auch diesmal, daß die Leute in den Fahrzeugen das wohl bemerken könnten, allerdings meinen würden, daß dort eben noch ein paar Bauern ihr Leben fristen, und wozu sollten sie dann kommen? Bloß um zu sehen, wie jene ihr Unkraut verbrannten?

„Heute wird es vielleicht anders sein“, sagte sie. „Heute werden sie unser Zeichen erkennen und vorbeikommen, wir werden einsteigen, wegfahren, und draußen in der Freiheit werden wir tun, was wir während der Jahre hier im Haus und am kleinen Brunnen versäumt haben. Es wird schön sein.“

Nebeneinander standen sie und horchten. Erst war der Motorenlärm laut, und danach wieder leise. Eine Stunde später war nichts mehr zu hören.

Aber inzwischen gab es kleine Wolken am Himmel, die hinter ihnen aufgestiegen waren und die sie bisher mit ihrem Horchen und dem Blick zu den Bergen nicht bemerkt hatten. Sie schauten nach Osten, woher die Wolken gekommen waren. Noch einmal eine Stunde, und es regnete. Er lief zur Zisterne, um die darüberliegen-den Bretter wegzurücken. Sie lief und schob den Bottich unter die Reg enrinne hinter dem Dach.

„Wenigstens Regen“, sagte er und ging ins Haus. Sie blieb draußen. Bald waren ihre Haare naß und dann das Kleid. Sie stand und schaute noch immer über die Steppe nach Osten.

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