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Aufbruch im Frühjahr

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Plötzlich hatte sich von Süden her ein warmer Wind erhoben. Schon wenige Tage später war der Schnee selbst aus den verstecktesten und nach Norden gerichteten Winkeln verschwunden, der Boden trocknete langsam, Pfützen versickerten, und die Luft trieb schwanger mit Wasser dahin, warm und feucht. Aber die Erde war braun und die Bäume je nach ihrer Art in Stamm

und Ästen noch unheilvoll dunkel, fast schwarz, seltener sübrig und bloß hier oder da gelb, manchmal rotbraun. Der Wind war zwar lau, aber das Frühjahr noch immer fern, denn es gab nicht die geringste Spur von Grün.

Er war seit Neujahr nicht im Amt gewesen, hatte sich unwohl gefühlt, Gewicht verloren, gefiebert, aber bloß leicht, sein Arzt schüttelte den Kopf, meinte jedoch, daß mit dem Sommer alles wieder sein werde wie vorher, wie im alten Jahr.

Zwei Wochen später war er noch immer krank, doch ging es

viel besser mit ihm als früher, und es gab bereits Tage, da wanderte er kurz hinaus, die Luft war mild, die Felder hinter seinem Haus aber nach wie vor trostlos braun. Doch während des Spazierganges am nächsten Vormittag blickte er plötzlich auf. Was war das? Er lächelte, denn tatsächlich lag — über Nacht gekommen und noch kaum faßbar — ein Hauch von hellem Grün über der Erde. Dann merkte er, daß die Äste der Weiden am Bach strohgelb, die Knospen der Kastanien an den Spitzen ein wenig geöffnet waren und dort ein Fiaum von Gelbgrün hinaus und hinauf zum Himmel drängte. Noch einmal zwei Wochen, und er fühlte sich um vieles besser. Fast wäre er bereits ins Amt gegangen, hätte es ihm der Arzt nicht dringend verboten.

Am nächsten Tag, nach dem Frühstück, war es schließlich so weit. Wie immer trug er zuerst Teller und Tassen in die Küche, kehrte anschließend ins Wohnzimmer zurück, ging zum Fenster,

blickte hinaus über die nun bereits deutlich grünen Felder und zuletzt hinüber zum hübschen Nachbarhaus, wohl leer seit dem Tod des greisen Besitzers vor einigen Jahren, aber noch immer ein gut erhaltenes kleines Gebäude aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, gelber Verputz zwischen Eichenbalken, ein Erker und darüber ein spitzes Dach, das Ganze in einem riesigen Garten.

Dann freute er sich wie kaum je zuvor während seines gesamten bisherigen Lebens, denn an jenem Tag war drüben der uralte, längst schon verwilderte, aber noch immer kräftige Kirschbaum, den er von Kindheit an geliebt hatte, voll erblüht, von tausend zarten weiß-rosa Flocken überzogen. Auch während des ganzen folgenden Tages war er glücklich und zuversichtlich - ja, am Montag der kommenden Woche würde er wieder im Amt sein, und da könne der Arzt verbieten, was er wolle.

Am Morgen danach saß er noch bei seinem Kaffee, als ihn

das Geräusch eines schweren Motors aufhorchen ließ. Aber erst als der Lärm stärker wurde und schließlich unerträglich, stand er auf, ging zum Fenster und blickte hinaus.

Von einem breiten, dreiachsigen, sehr tiefliegenden Lastwagen hatte man eben einen Schaufelbagger heruntergebracht und der bewegte sich bereits langsam und wie ein vorzeitliches Riesentier auf das verlassene Nachbarhaus zu. Oh Gott. Natürlich sagte man während der letzten Monate immer wieder, daß das alte Haus wegkommen sollte, um einem großen Neubau Platz zu machen. Aber es hatte doch niemand so recht daran geglaubt.

Dann hatte das Raupenfahrzeug das Nachbarhaus erreicht, fuhr wie ein Panzer dagegen an, und schon war eine der Mauern dem Ansturm gewichen, war gefallen, und wie das Gedärm eines verletzten Tieres lagen die Gegenstände im Zimmer offen da —

natürlich, die Küche war es, und da stand der alte Herd, das Waschbecken aus Stein, ein kleiner Kasten aus Holz, den die Erben nicht des Mitnehmens wert gehalten hatten. Ein zweiter Stoß des Baggers, und ein Teil des Daches fiel — um schon im nächsten Augenblick von der geschäftigen Schaufel beiseite geschoben zu werden.

Danach überlegte er nicht mehr und schaute bloß noch, als zwei Arbeiter mit einer Leiter und Kettensägen kamen, um gleich anschließend zuerst einmal zwei und danach die anderen Äste des eben erblühten Kirschbaumes abzuschneiden, um eine Viertelstunde oder eine Ewigkeit später bereits den stumpfen, braunroten, plötzlich kahl gewordenen Stamm zu fällen.

Sonderbar - sagte der Arzt zehn Tage später —, natürlich hatte er Krebs, aber diese Art greift gewöhnlich sehr langsam um sich, ich hätte ihm noch Jahre gegeben, fünf oder zehn Jahre, sonderbar, und nie während all meiner langen Zeit mit Kranken habe ich etwas Ähnliches erlebt. Außerdem war er doch immer so geduldig und zuversichtlich

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