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Mit eigenen Augen…

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„Niederschiaßen sollt ma s’“, sagte die ältere Frau äm Fernsehen über die Geiselentführer. Das war natürlich nicht gerade zivilisiert, aber es war ein Indiz. Über das sich ein Nationalratsabgeordneter, der zudem Soziologe ist, nicht hinwegsetzen dürfte. Diese Haltung hat schon einmal

— als es um mehr als Strafvollzug ging — dazu beigetragen, daß die Sozialdemokratie eine historische Partie an jene verlor, die ein Ohr für solche „tiefen Töne“ gehabt hatten.

Ich bin, weiß Gott, dafür, daß wir soweit wie möglich von den Daumenschrauben weg und zur Besserung von Gesetzesbrechern gelangen. Heute nennt man das im Jargon der Soziologen ungeschickt Rehabilitierung. Ungeschickt, weil geeignet, Widerspruch hervorzurufen. Nur ein Unschuldiger kann rehabilitiert, das heißt, zu dem gemacht werden, das er sowieso ist: unschuldig. Für den aber, dem das größte Übel, die Schuld, ist, gibt es nur Sühne, das heißt Strafe. Das muß ebenfalls wieder einmal ausgesprochen werden, damit die kleinen Leute nicht von „Niederschiaßen“ zu reden anfangen.

Da war zuerst Rousseau und mit ihm der zu seiner Zeit und auch in der darauffolgenden bürgerlichen Gesellschaft nicht unmotivierte Glaube, daß diese an aller individuellen Schuld mitschuldig und daß der einzelne im Grunde unschuldig, somit auch gut sei. Bis wir unterdessen — auch durch Freud — belehrt wurden, daß der Mensch nicht zuerst ein Opfer der Gesellschaft, sondern seiner selbst ist. Was indizierte der Ausspruch jener Frau im Fernsehen?

Wo Schuld geschieht, dort gibt es

— insbesondere bei Gewaltverbrechen — zunächst ein Gefühl gestörter Sicherheit in der Umwelt. Wenn dem nicht Rechnung getragen wird, dann entsteht tiefe Beunruhigung, so lange, bis der Schuldige attrappiert und bestraft ist. Es war gut und nötig, daß die Gesellschaft das gesellschaftliche Fortsetzen von Mord durch die Aufhebung der Todesstrafe und von verbrecherischer Brutalität’ durch Humanisierung des Strafvollzugs unterbrochen hat. All das ist aber nur sekundär, umstandhaft. Primär ist, daß Recht geschieht, und daß den Menschen das Gefühl verschafft wird, daß es geschieht. Es geht dabei um so wichtige Dinge, wie um den Tod. Er ist das große unlösbare Problem der Menschen. Um seinen Schrecken einigermaßen auszugleichen, haben wir uns eine Reihe von Glaubensund Verhaltenssätzen gefunden. Mord oder Morddrohung stören diesen Ausgleich, bringen die Todesangst zurück. Bestrafung und Sühne des Gewaltverbrechers helfen, das seelische Gleichgewicht der anderen wiederherzustellen. Darauf kommt es ihnen vor allem an. Besserung kommt in jedem Fall erst lang danach. Es besteht übrigens gar kein Widerspruch zwischen Strafe und Sühne einerseits und Besserung anderseits. Im Gegenteil: die ersteren sind Voraussetzung für das zweite. Es gibt nicht nur eine Bigotterie der Reaktion, es gibt auch eine solche des Fortschritts.

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