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Reh auf der Autobahn

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Was für Optimisten waren doch unsere Groß- und Urgroßeltern vor dem Ersten Weltkrieg! Mit welchem Zukunftsoptimismus sie das 20. Jahrhundert begrüßten! Aber auch in den Zwanzigern, ja selbst in den Jahren des Mangels und Hungers nach dem Zweiten Weltkrieg blickte man vergleichsweise hoffnungsvoll in die Zukunft, erwartete von ihr, was die Gegenwart schuldig blieb.

Dagegen heute: Kassandren überall. Es wimmelt von ihnen. Die einen sehen die Ozeane steigen, Städte in ihnen versinken, denn wenn wir weitermachen wie bisher, wird das produzierte Kohlendioxid die Abstrahluhg von Wärme in den Weltraum behindern und die Erde sich folgüch immer mehr erwärmen.

Es sei denn, es käme vorher zu einem Atomkrieg. In diesem Fall hätten wir uns auf den atomaren Winter gefaßt zu machen, auf arktische Temperaturen selbst im Sommer, und dies wohl jahrelang, denn die in die höchsten Regionen der irdischen Lufthülle geschleuderten Staubmassen würaen nur noch wenig Sonnenlicht durchlassen.

Der „kassandrische Konsens“ ist breit. Man ist sich keineswegs einig darüber, welche Gefahr am größten ist, aus welcher Ecke der Schlag kommen wird, aber eine große Zahl von Menschen beurteilt die Uberlebenschance der Menschheit, jedenfalls ihrer heutigen hochentwickelten Zivilisation, äußerst skeptisch. „Zu retten sind wir sowieso nicht mehr“ — wer sich umhört, kennt viele Varianten dieses Spruchs.

Jene Kassandren, die der Menschheit das Schicksal der Lemminge prophezeien, den Untergang in durch Übervölkerung ausgelösten Hungerkatastrophen, sind in letzter Zeit etwas leiser geworden. Aids, hört man immer öfter, werde ohnehin das Bevölkerungsproblem lösen, sei drauf und dran, weite Landstriche Afrikas zu entvölkern. Aber auch die chlorierten Kohlenwasserstoffe gelten als heißer kassan-drischer Tip. Mit dem ozonzerstörenden Zeug aus den Spraydosen handeln wir uns nämlich möglicherweise eine Rate von Hautkrebserkrankungen ein, von der wir uns heute so wenig eine Vorstellung machen wie vor sechs Jahren von Aids.

Wahrscheinlich ist die Vielzahl mehr oder weniger ernst zu nehmender, aber zum Großteü eben doch sehr handfester Bedrohungen und die dadurch entstandene Verwirrung schuld an dem absurden Mißverhältnis zwischen dem, was geschehen müßte, und dem, was tatsächlich geschieht. Das Verhalten der Menschheit hat große Ähnlichkeit mit der von der Verhaltensforschung beschriebenen Reaktion von Tieren in unklaren, widersprüchigen Situationen, die deren Möglichkeiten, sinnvoll zu reagieren, überfordern. Die Unmöglichkeit, zu entscheiden, welche Fluchtrichtung etwa die bessere sei, führt zu einem besonders gefährlichen Hin und Her — oder dazu, daß beispielsweise das Reh im Lichtkegel des Autos einfach stehenbleibt.

Bedroht vom Waldsterben, von weiteren Tschernobyls, von der Abfallbelastung der Flüsse und vom Aussterben zahlloser Tiere und Pflanzen, auf der anderen

Seite aber von wirtschaftlichen Krisen, Arbeitslosigkeit, politischer Destabilisierung, wenn weniger verbraucht wird, und so weiter und so fort, tun wir einst-weüen wenig mehr als nichts.

Es ist keineswegs so, daß wir unsere Kassandren ignorieren. Sie haben ein gewaltiges Publikum, einen Großteil der wohlinformierten, nachrichtenberieselten, urteilsfähigen Bevölkerung aller demokratischen, pluralistischen Industriestaaten. Wir hören ihnen zu, wir lesen sie, sie sind zu einem Teil unseres höheren Konsumverhaltens geworden. Doch was das sinnvolle Handeln betrifft - j a, wo soll man denn da anfangen?

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