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Sehnsucht nach dem Fest

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In seiner Dankrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1983 „Leben im Jahrhundert der Weltkriege“ erörtert Manes Sperber - der zugleich überzeugend versichert: „ich bin gegen jeden Krieg, ausnahmslos“ - die „Frage, die das allgemeine Verhältnis des Menschen zum Krieg betrifft“, und er schreibt: „Hier eine Einsicht, die sich mir seit Jahren aufdrängt: Sie betrifft das Verhältnis des Menschen zu seinem tyrannischen Alltag, den er als Versklavung und als Entkernung seines Wesens empfindet. Ihm sucht er, bewußt oder unbewußt, zu entweichen. Ja, seit JaHrtausenden suchen Menschen aller Stände der täglichen Wiederkehr des Gleichen zu entfliehen — gleichviel wohin. Gewiß, man kann in intimen Erlebnissen, in Liebe und Freundschaft, aber auch in intimen Zwistigkeiten Abwechslung, Fluscht und Ausflucht suchen, aber nur das große Abenteuer, ein allgemeines Moratorium des Alltags, kann eine völlige Umwälzung der Lebensweise und der alles regelnden täglichen Ordnung herbeiführen: der Krieg.“

Diese These hat Manes Sperber schon 1937, in seiner „Analyse der Tyrannis“, vertreten: die Menschen fürchten den Krieg nicht nur, sie wünschen ihn auch, zumindest unbewußt, um ihrem Alltag zu entkommen. Jede Warnung vor dem Krieg bleibt zu harmlos, die nicht vor dieser Quelle des Kriegswunsches warnt und erkennt: Der Krieg ist für die Menschen nicht nur schrecklich, sondern zugleich .auch auf schreckliche Weise erwünscht: als Entlastung vom Alltag.

Aus dieser These von Manes Sperber, die mir ganz und gar plausibel erscheint, möchte ich folgern, daß es zwei große Gegenmittel gegen den Krieg - gegen diesen elementaren Kriegswunsch nach einem „Moratorium des Alltags“ - gibt, nicht den Pazifismus, sondern die folgenden beiden: mehr Mut zum Alltag und mehr Mut zum Sonntag. Mehr Mut zum Alltag: das bedeutet, das Bedürfnis nach Entlastung vom Alltag — nach „Moratorium des Alltags“ — durch mehr Bereitschaft zum Alltag zu reduzieren. Mehr Mut zum Sonntag: das bedeutet, eine andere Entlastung vom Alltag - ein vom Krieg verschiedenes Moratorium des Alltags — zu suchen und zu pflegen.

Wer sich mit seinem Alltag versöhnt, braucht jene Entlastung vom Alltag nicht, die der Krieg ist; und ebenso: wer sich durch den Sonntag mit seinem Alltag versöhnt, braucht jene Entlastung vom Alltag nicht, die der Krieg ist.

Denn der Krieg ist mitnichten das einzige „Moratorium des Alltags“. Das große andere „Moratorium des Alltags“ ist das Fest. Ich meine hier vor allem - und spreche darum vom Sonntag — das religiöse Fest. Das Fest unterscheidet sich vom Krieg unter anderem dadurch, daß es den Alltag nicht ersetzt, sondern ergänzt, also den Alltag nicht auslöscht, sondern segnet. Vielleicht gilt: je mehr das Fest — der Sonntag - seine Kraft verliert, desto stärker wird das Bedürfnis, das „Moratorium des Alltags“ als Krieg zu absolvieren, und je mehr das vermieden werden soll, desto mehr muß das Fest wieder an Kraft gewinnen. Denn der Krieg: das ist - als schlimmes „Moratorium des Alltags“ — die Perversion des Festes; und das Fest: das ist - als gutes „Moratorium des Alltags“ - die Erübrigung des Krieges.

Das mag auch von den halb-oder nichtreligiösen Festen gelten, zu denen — nota bene — auch der Geburtstag gehört, vor allem der runde, etwa ein sechzigster Geburtstag. Darum sollte man gerade auch die zweitbesten Feste nicht tadeln: von der Kunst - wenn sie nicht gerade das Leben ersetzen will — über den Sport — wenn er nicht gerade das Leben ersetzen will — bis zu jener halbfestlichen Form des Alltagsmoratoriums auf genau befristete Zeit, die in der modernen Wohlstandswelt entstanden ist: dem Urlaub.

Auch der Urlaub tritt nicht an die Stelle des Alltags, sondern neben den Alltag, um ihn lebbarer zu machen, und gehört so — wie der Sonntag — zu den Segnungen des Alltags. Zugleich aber übernimmt der Urlaub auf friedliche Weise Funktionen, die früher der Krieg wahrnahm. Zum Urlaub gehört häufig die Reise, nicht selten die Reise in andere Länder. Der moderne Massentourismus ist die Demokratisierung der Bildungsreise, indem er die friedliche Fortsetzung jenes Breitentourismus ist, den früher nur der Krieg bot. Einstmals mußte man in schöne und interessante Länder einmarschieren, damit viele Menschen sie kennenlernen konnten; heute - ein Vergleich beispielsweise der Zahl früherer deutscher Besatzungssoldaten mit der Zahl heutiger deutscher Urlauber etwa in Jugoslawien zeigt das — braucht man diese martialische Form der Touristik nicht mehr: heute bucht man Yugotours.

Der Massentourismus wird häufig gescholten: ich meine, er ist eine gute Sache. Denn auch der jährliche Urlaub ist—auf bescheidene Weise - ein Fest: und wir brauchen Feste, um auch so den Kriegswunsch in uns zum Erlöschen zu bringen.

Das ist besonders wichtig im Zeitalter der Nuklearisierung des Krieges. Niemals zuvor war es nötiger, unseren geheimen Wunsch nach jenem „Moratorium des Alltags“, das der Krieg ist, zum Verschwinden zu bringen, denn niemals zuvor war dieser Wunsch gefährlicher. Wenn meine Erwägung zutrifft, wäre also — gerade im Zeitalter der Nuklearisierung möglicher Kriege — wichtiger als je zuvor: die Bereitschaft zum Alltag (und ihre Förderung: etwa durch das, was man „Humanisierung der Arbeitswelt“ nennt), und die Bereitschaft zum Sonntag: die Stärkung der Kultur der Feste.

Beides - der Mut zum Alltag und der Mut zum Sonntag — ist wichtiger als der Ruf nach dem „alternativen Leben“. Denn auch das „alternative Leben“ ist ein „Moratorium des Alltags“, das nicht selten dazu tendiert, an die Stelle des Alltags und des Sonntags zu treten und beide auszulöschen: wo es das tut, gewinnt es — ungewollt — martialische Züge; denn das Extrem des Aussteigers ist der Krieger, und das extremste alternative Leben ist der Krieg, zu dem auch der Bürgerkrieg gehört. Mut zum Alltag und Mut zum Sonntag sind wichtiger als der Ruf nach dem „alternativen Leben“. Sie sind auch wichtiger als die Pflege der Kriegsangst durch jene Mitmenschen, die ständig den Angsttraum Krieg träumen und uns zum angstvollen Mitträumen verpflichten wollen.

Die Psychoanalyse hat uns gezeigt, wie ein Angsttraum funktioniert: die Angst, die man bei ihm hat, ist nicht die Angst vor dem Schrecklichen, das man träumt, sondern die Angst vor unserem Wunsch nach dem Schrecklichen, das man träumt. Der Angsttraum-getarnt als eine Abwehr — konserviert einen schlimmen Wunsch: je größer und schlimmer die Angst, desto größer und schlimmer der Wunsch. So könnte es auch beim Angsttraum Krieg sein: statt ihn abzubauen, konserviert er jenen geheimen Wunsch nach dem martialischen „Moratorium des Alltags“, den wir uns endgültig nicht mehr leisten können.

Der Autor ist Professor der Philosophie an der Universität Gießen.

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