Fluch und Segen: Das Kreuz des Alltags

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Im Alltag geht es um alles: um die Entdeckung der Welt in liebender Aufmerksamkeit wie ums Respektieren verbrauchter Hoffnungen. Theologische Betrachtungen.

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Im Alltag geht es um alles: um die Entdeckung der Welt in liebender Aufmerksamkeit wie ums Respektieren verbrauchter Hoffnungen. Theologische Betrachtungen.

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Der Segen des Alltags besteht in einer recht schlichten Tatsache: Es passiert nichts wirklich Neues. Man wird nicht böse überrascht, man kann sicher sein, dass man den Abend leidlich gut erreichen wird, so wie man ihn gestern leidlich gut erreicht hat, die Strategien und Mechanismen, die man sich erarbeitet hat, um das Leben zu bestehen, sie werden funktionieren.

Der Segen des Alltags ist die Erfahrung von Souveränität. Es ist keine großartige und prächtige Souveränität, die man da erfährt, eher eine kleine und bescheidene, aber es ist Souveränität. Im Alltag bleiben wir die Herren der Lage.

Der Fluch des Alltags besteht ebenfalls in recht schlichten Tatsachen: Es passiert nichts wirklich Neues. Man wird nicht überrascht, der Tageslauf unterscheidet sich nicht wesentlich von jenem von gestern und morgen, man kommt zwar zurecht, aber es bleiben einige nagende Fragen: Hätte ich an diesem Tag nicht auch Anderes, Spannenderes, Schöneres, Aufregenderes tun und erleben können? Wieder ist ein Tag von den endlichen Tagen meines Lebens einfach so vergangen, und nichts wirklich Neues ist geschehen.

Der Fluch des Alltags ist: Er konfrontiert mit der eigenen Endlichkeit, mit dem Zerfließen des Lebens zwischen den Fingern bis die Sanduhr ausgelaufen ist, und vielleicht gar nicht so viel gewesen war - außer eben: Alltag.

Die Kehrseite von Bayreuth

Ich bin in Bayreuth aufgewachsen: eine überschaubare, lebenswerte fränkische Residenz-Stadt. Doch Bayreuth hat eine Kehrseite: Es war ganz besonders begeistert vom Nationalsozialismus. Bayreuth war eine der Lieblingsstädte Hitlers.

Hitler bediente viele Sehnsüchte, die nach Gemeinschaft etwa, vor allem aber bediente er die Sehnsucht nach einem heroischen Leben jenseits der mühseligen Alltäglichkeit, nach einem Leben der Ehre und des Muts, der Öffentlichkeit und der spektakulären Tat. Vom George-Kreis bis Ernst Jünger, von der Jugendbewegung bis zur militaristischen Freikorps-Szene der Zwischenkriegszeit: Das Ressentiment gegen die "Masse", gegen die "Verflachung", gegen den Alltag war gerade unter den Eliten damals weit verbreitet - und nicht nur bei ihnen. Man wollte einer spießig selbstgefälligen Alltäglichkeit voller Regeln und kleinbürgerlicher Normen, voller kleiner und kleinster Freuden und großer Ängste und grauer Tristesse entkommen. Irgendwie ist das ja verständlich .

Die Flucht aus dem Alltag ins Heroische verspricht Selbst-und Fremdachtung und vor allem Distinktionsgewinn. Aber sie entsolidarisiert von den alltäglichen Menschen außerhalb meiner selbst mit ihren alltäglichen Leben: Sie werden verachtet -im Extremfall tödlich verachtet. Die heroische Flucht aus dem Alltag funktioniert nicht, als politisches Konzept führt sie sogar in die Katastrophe.

Der Heroismus als Existenzkonzept - nicht als Antwort auf unabweisbare Herausforderungen - will den Alltag überspringen. Er will sich fühlen. Auf diese Art des Heroismus zu verzichten, heißt in der geistlichen Tradition: Demut.

Mit Demut küsse ich die Vaterhand, die mich züchtigt zur Warnung und zur Besserung. (...) Einst werde ich mit frohem Dank auch für meine Leiden Dich preisen. Amen.

Dieses Gebet steht in einem kleinen Andachtsbüchlein aus dem Jahr 1897. Das ist der andere Straßengraben: Gott und das Leiden des Alltags werden hier religiös zwangsgekoppelt. Man darf den Alltag, und sei er noch so unerträglich, unter der Androhung des religiösen Heilsverlustes nicht verlassen, nicht den Alltag des Berufs, nicht den Alltag der Ehe, nicht den Alltag des eigenen Standes oder der angeblich gottgewollten Geschlechterrolle.

Da ist es schon ein Schritt, klagen zu können, dem eigenen Leiden Worte geben zu können, Worte der Klage und der Anklage: Das ist ein erster Schritt zurück ins Leben, in die Kommunikation, in die Selbstfindung des Ichs. Eine Religion, die nicht klagen kann und eine Religiosität, die Klage nicht formulieren kann, auch und gerade dem fernen, ja abwesenden Gott gegenüber, ist fern unserer Existenz, ist zuletzt unmenschlich.

Deshalb ist vielleicht das Gefährlichste am Alltag, dass sein Leiden so klein und versteckt ist, so alltäglich, dass man sich mit ihm arrangiert hat, und man gar nicht mehr merkt, wie falsch er ist. Mit einem falschen Alltag zu brechen, heißt in der geistlichen Tradition: Umkehr.

Der Alltag wird beweglich

In dem, was man so die späte Moderne nennt, wird der Alltag zunehmend beweglich, offen, flüssig. Zwar ist nicht ständig alles in Fluss, aber alles kann ins Fließen kommen. Es kann sich jederzeit viel, wenn nicht alles ändern, so sehr, dass etwa der englische Soziologe Zygmund Bauman von einer "liquid modernity" spricht.

Den einen macht das Angst, die anderen surfen auf den Wellen der Freiheit und des Erfolgs. Das Befreiungspathos der Moderne versprach, aus den traditionellen Bindungen zu erlösen, die den Alltag so lange unentrinnbar bestimmten: den "ständischen Schalen" der Geschlechterrolle, des Herkunftsmilieus, der sozialen Schicht oder der Religion.

Die moderne Gesellschaft hat viele dieser Versprechen für viele gehalten, sonst wäre sie nicht so erfolgreich. Freilich, diese neue Freiheit kostet auch etwas. Sie ist mit den Anrufungen eines wettbewerbsorientierten und optimierungssüchtigen Kapitalismus erkauft, der alle immer und überall drängt, sich zu perfektionieren, gerade auch den Alltag: das Äußere, das man in ihm präsentiert, das Zeitmanagement, mit dem man ihn "bewältigt", die Leistung, die man in ihm zu erbringen hat.

Und so wird der Alltag zum Hamsterrad der professionellen, ökonomischen, ästhetischen und schließlich auch emotionalen Optimierung. Wovon, paradoxerweise, eine ganze Brache von professionellen Alltags-Entschleunigungs-Optimierern lebt.

Aus dem Paradox des Alltags, zugleich Trost der Sicherheit und Ahnung der Endlichkeit zu sein, führt nur ein Weg hinaus: der Weg mitten in den Alltag selbst. Man darf sich nicht einfach mit dem Alltag versöhnen, er kann aber auch nicht durch Flucht verlassen werden, aber er kann reich werden durch Entdeckung.

Die Gewöhnlichkeit und Durchschnittlichkeit des Alltags sind eine Not, aber zugleich ein Segen. Der Weg, diesen Segen zu spüren und diesen Segen zu erhalten, ist die liebende Aufmerksamkeit. Das ist die Fähigkeit, sich den gewöhnlichen Umständen des Lebens so zuzuwenden, als ob in ihnen das ganze Leben versteckt sei. Liebende Aufmerksamkeit: Das ist zugleich das Schönste und wahrscheinlich auch das Schwerste im Leben.

Denn die Liebe zum Gewöhnlichen ist keine gewöhnliche Liebe. Sie ist eine außergewöhnliche Tat. Aufmerksamkeit einüben auf das kleine Neue zwischen den Spalten der Alltäglichkeit: das wäre die Chance, der Not des Alltags zu entkommen und seinen Segen zu spüren. Denn die "Unglücklichen bedürfen keines anderen Dinges in dieser Welt als solcher Menschen, die fähig sind, ihnen ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden", so hat das Simone Weil formuliert.

Wo Gott Mensch wird

Das Kreuz des Alltags lässt entdecken, wer wir sind. Denn in der Entdeckung der Welt in liebender Aufmerksamkeit finden wir uns. Es gilt übrigens auch umgekehrt: Wo wir im Alltag der bitteren Sehnsüchte und verbrauchten Hoffnungen uns und andere respektieren, wo wir anderen verzeihen, uns für sie einsetzen, wo wir liebende Aufmerksamkeit sind, da wird Gott Mensch.

Denn die ganz und gar merkwürdige Zuordnung von Besonderheit und Allgemeinheit, von Offensichtlichkeit und Verborgenheit, von Immanenz und Transzendenz ist charakteristisch nicht nur für unsere Existenz, sondern auch für die Existenz Gottes in unserer Welt. Karl Rahner sagt: Sie ist die anonyme Weise seiner Existenz.

Es ist der Alltag, in dem es um alles geht. Er ist eben so viel mehr als nur gewöhnlich. Er ist der Ort, wo das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche aufeinander stoßen. In der Sprache der Theologie: Er ist der Ort, wo es um Gott geht, wo es um alles geht, wo alles möglich ist. Vielleicht braucht man ja den Gottesbegriff vor allem, damit genau das möglich ist: ganz da sein und doch nicht aufzugehen in dem, was einen umgibt.

Der Autor ist Pastoraltheologe an der Kath.-Theol. Fakultät Graz

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