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Digital In Arbeit

Statt Bildung Ausbildung

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Die Rechtschreibkenntnisse angehender Lehrer sorgten für Schlagzeilen. Was wurde hier wirklich getestet? Wie reagiert der Unterrichtsminister? Und: Wo steht unsere Gesellschaft heute geistig?

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Die Rechtschreibkenntnisse angehender Lehrer sorgten für Schlagzeilen. Was wurde hier wirklich getestet? Wie reagiert der Unterrichtsminister? Und: Wo steht unsere Gesellschaft heute geistig?

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Nicht ökonomische Gründe bewirken die Krise und den Niedergang einer Gesellschaft; das Übel steckt tiefer und ist schwierig zu orten, denn es liegt im Geistigen: in der Aushöhlung des Weltbildes, in der zunehmenden Unfähigkeit geistiger Sammlung, im allgemeinen Hinabsinken in einen Zustand geistiger Leere. Die Zerrüttung der Wirtschaft ist Folge und Symptom, ist etwas Meßbares, macht die Auswirkungen fatal, aber: es ist immer noch der Mensch, der die Gesellschaft und deren ökonomisches System gestaltet.

Der Zusammenhang zwischen den gegenwärtigen krisenl- *ften Vorgängen unseres Wirtschaftssystems und dem geistigen Zustand der Gesellschaft ist augenfällig.

Wenn der Unterrichtsminister angesichts der mangelhaften Rechtschreibkenntnis der angehenden Lehrer die Lage in diesem Punkt als „niederschmetternd" bezeichnet, wenn die Absolventen der Hauptschulen, nach der Feststellung der Fachleute, ihre Berufslaufbahn im Zustand eines „partiellen Analphabetismus" beginnen, kann die Schuld nicht bei den Pädagogen liegen. Die meisten Lehrer tun mehr als ihre Pflicht; allerdings gibt es auch unter ihnen einige, die ihre Beschäftigung nicht für eine Tätigkeit der Berufung halten, sondern lediglich für einen „Job".

Damit aber steht die kleine Minderheit der Lehrenden im Einklang mit den Vorstellungen jener, die in der Arbeit lediglich eine Tätigkeit sehen wollen, die allein dazu dient, Geld — möglichst viel Geld — zu verdienen.

Solche Vorstellungen machen sich auch — expressis verbis oder unausgesprochen — hinsichtlich des Bildungszieles der Schulen bemerkbar. Diese sollen nach dem Dafürhalten vieler Politiker, Bildungstheoretiker und Eltern weniger bilden als ausbilden, weniger die Kultur der Persönlichkeit entwickeln als Fertigkeiten für die künftige Übernahme eines. „Jobs" vermitteln, das heißt: weniger geistig als „praktisch" wirksam werden.

In diesem Punkt scheinen sich engstirnige Vertreter der Wirtschaft mit den ideologischen Gegnern einer humanistischen Büdung bestens zu verstehen. Ihre unheilige Allianz mag durch die Feigheit mancher Politiker gestärkt werden. Denn diese denken nicht an die geistige Substanz der Demokratie, sondern vor allem an die Zufriedenheit des Wahlvolks. Das begünstigt die Neigung zur Faulheit ebenso wie eine Verherrlichung des Wohlstandes um jeden Preis — ja, um jeden. Der individuelle Weg zu diesem Wohlergehen heißt nicht Arbeit, heißt schon gar nicht Bildung, sondern: einen guten „Job" zu haben.

In der Abtrennung der fachlichen Ausbildung von der humanistischen Bildung, des praktischen Wissens von der inneren Kultur, des „Jobs" von der auch geistig zu bewältigenden Arbeit liegt die Ursache für die wachsende Entfremdung des Menschen von seinem Werk, liegt auch der Grund für Auflösungserscheinungen der Gesellschaft. Die Aufsplitterung in ethisch sorglose Spezialisten muß das Gemeinwesen in einen Menschenhaufen ohne Zusammenhalt verwandeln. Wer nur seinen „Job" sieht, kann das umfassendere Ziel seiner Tätigkeit nicht mehr begreifen. Er wird, sofern man ihm nur seinen „Job" läßt, zum willfährigen Untertan jeder Willkür.

Hier wird ein Paradoxon sichtbar: Indem die permissive Gesellschaft auf den gemeinsamen Nenner des gemeinsamen Geistes verzichtet, führt sie sich selbst ad absurdum, und das heißt: in den Untergang. Das Leben und Uber leben der Demokratie kann nicht von Fachidioten, sondern nur von Demokraten gesichert werden. Demokratie aber ist, mit Verlaub gesagt, ein Ideal, ein ethischer Wert, eine Sache des Geistes.

Daß viele Politiker nicht in der Lage sind, sich Prozesse als paradox vorzustellen, liegt an der Ausrichtung ihres Weltbildes. Es orientiert sich an der geradlinigen Abfolge materieller Größen und ist also bedenkenlos bereit, Qualität für die Quantität zu opfern.

Lesen und schreiben zu können ist eine Qualität, eine Grundlage der Kultur, die einzige Möglichkeit, am Kreislauf geistiger Inhalte aktiv und passiv einen Anteil zu haben. Weder die Zahlenwelt der Rechenmaschinen, noch die Bilderwelt des Fernsehens, der Illustrierten und der Comic-strips kann die Schrift ersetzen. Die zweiunddreißig Zeichen des Alphabets vermitteln komplexeste Inhalte auf engstem Raum; zudem ist Lesen wie Schreiben schöpferische Arbeit: sie setzt die Phantasie in Bewegung.

Wer mit der Schrift seine Schwierigkeiten hat, kann auch die Bilder des Fernsehens nicht richtig verstehen, kann auch die Ziffern seines Computers nicht richtig deuten. Er sinkt auf einen vorgeschichtlichen Zustand zurück, er wird zum autofahrenden Menschenaffen.

Die gegenwärtige Diskussion über den „partiellen Analphabetismus" bietet eine — vielleicht letzte — Möglichkeit der Besinnung. Sie müßte in der radikalen Forderung münden: Befreit den aufgequollenen Lehrstoff unserer Schulen vom Ballast jener Informationen, die allein das Ergattern eines guten „Jobs" erleichtern! Verwandelt die Schulen in Werkstätten des Geistes, das heißt, in Orte, die Lernfähigkeit und Kultur vermitteln!

Keine Gesellschaft hat das Recht, den jungen Mitbürgern den Zugang zur Schrift zu versagen. Schulpflicht ist nichts ohne Kulturpflicht.

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