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Unfrisierter Nachlaßband

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„Sudelbücher” nannte Georg Christoph lichtenberg die Hefte, in denen er seine ungeordnet aneinandergereihten Einfälle zu Papier brachte; ähnliche Beiläufigkeit in bezug auf die Konzeption seiner Aphorismen soll Lee’ Titel „Unfrisierte Gedanken” ausdrücken. Dabei sind weder Lichtenberg noch Lee oberflächlich oder gar harmlos. Lee’ Aphorismen sind souverän gefertigte Momentaufnahmen seiner Gedanken. Er macht darin die Kehrseite der Dinge sichtbar („Der Sargdeckel ist auf der Seite des Verbrauchers schmucklos”), er desillusioniert („Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie”, „Die meisten Denkmäler sind hohl”), er zweifelt an Begriffen, die vielen teuer sind („Wenn ein Menschenfresser mit Messer und Gabel ißt — ist das ein Fortschritt?”), er ist engagierter Pazifist („Vermeidet Blutvergießen. Ein Held honoris causa hätte es meinetwegen auch”) und kritisiert schonungslos unsere Denkmodelle und Institutionen.

Von Karl Dedecius, der das Verdienst hat, Lee im deutschen Sprachraum bekannt gemacht zu haben, stammt die stilistisch ausgezeichnete Übersetzung; sein aufschlußreiches Nachwort informiert über die Biographie des 1966 im Alter von 57 Jahren verstorbenen polnischen Autors, der sozialistisch engagiert, aber auch der versunkenen, von ihm kaum persönlich erlebten Donaumonarchie mit melancholischem Sentiment verbunden war. Ein unvermutet später Beleg für die Wirksamkeit und Bedeutung des habsburgischen Mythos in der Literatur, dessen Existenz der italienische Germanist Claudio

Magris eindrucksvoll herausgestellt hat. Paradox genug, daß dieser Beleg aus einem Land des Ostblocks stammt, in dessen diplomatischen Dienst Lee stand. Er war Presseattache in Wien von 1946 bis 1950.

Ein Gedicht von 1948 „Wiener Kaprice” spiegelt Lee’ seltsam ambivalente Haltung: „Durch Irrtum in diese neue / Demokratie verschlagen, / stehle ich mich durch die Straßen / mit Namen von Erzstatthaltem / an stillosen Häusern vorbei / den .Aufschwung zum…’ nicht zu hemmen.”

Das Buch enthält außer den 805 Aphorismen, die zum Großteil schon in den drei vorher erschienenen Bändchen „Unfrisierter Gedanken” zu lesen waren, Kurzprosa, Epigramme und Gedichte. Ledder verzichtet der Herausgeber und Übersetzer auf eine knappe Darlegung seiner editorischen Prinzipien. Ein knapper Bericht über den Fundus, aus dem Dedecius schöpfen konnte, und über die hier gebotene Anordnung des Materials hätte dem Buch keinen Abbruch getan und das nunmehr fünf Jahre alte Nachwort sinnvoll ergänzt. Überhaupt scheint die Philologie hier ein wenig zu kurz gekommen zu sein; ein scharfsichtiger Korrektor müßte auch wissen, daß die Peripatetiker ohne „h” und der Dichter Hofmannsthal ohne zweites „f” auskommen.

Alles in allem jedoch: Ein Buch, das sehr geistvoll ist, sich aber trotzdem zu Geschenkzwecken eignet.

DAS GROSSE BUCH DER UNFRISIERTEN GEDANKEN. Von Stanislaw Jerzy Lee. Aphorismen, Epigramme, Gedichte und Prosa. Herausgegeben und aus dem Polnischen von Karl Dedecius. Carl-Hanser- Verlag, München 1971. 268 Seiten, Leinen. S 124.30.

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