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Verzeihen und Vergessen

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Paris: An der Gedenkstätte für die Deportierten des Zweiten Weltkrieges liest man die Inschrift „Pardonne, n'oublie pas" (Verzeihe, doch vergiß nicht). Was dieser Satz bedeuten soll? Häufig, wenn man sagt „Ich könnte das nie verzeihen", meint man viel mehr, daß man das nie vergessen könne. Immer wieder werden Verzeihen und Vergessen verwechselt. Doch Vergessen ist nicht Verzeihen, und Verzeihen ist nicht Vergessen. Es geht in beiden Fällen nicht einfach darum, reinen Tisch zu machen, als wäre nichts geschehen.

Die einen ziehen es vor, „für immer" mit dem Angreifer, mit dem Verantwortlichen für das böse Geschehen, zu brechen. Sie wollen vergessen und die Zeit wird das übrige tun. Aber wie der Dichter sagt: „Man vergißt nichts, man gewöhnt sich." Man gewöhnt sich „mit der Zeit". Aber vergißt man, um zu verzeihen?

Man braucht nicht die Psychoanalyse zu bemühen, um zu begreifen, daß vergessene Wunden in Wirklichkeit unauslöschliche Narben hinterlassen. Vergessen mag den Haß dämpfen und die Rachsucht, doch wird deshalb die Vergangenheit nicht ausgelöscht, nicht mit dem geschehenen Bösen gebrochen. Man kann nicht verzeihen, was man vergessen will. Und nichts ist schlimmer als das Schweigen.

Wenn das Verzeihen dem Schuldigen seine Seelenruhe wiedergeben sollte, so kann das niemals zum Preis des Vergessens geschehen. Verzeihen ohne Gedenken kann nicht gültiges Verzeihen sein, denn das Gedächtnis ist Teil des Menschen. Dem

Verzeihen gegenüber muß man sich seines Fehlers erinnern, seines Irrtums oder seiner Sünde, man muß als Mensch die Verantwortung für die eigene Geschichte übernehmen.

Heute genügt es nicht einfach, sich über Faschismus zu empören, den Nazismus und seine Todeslager, über die stalinistischen Gulags, und dabei die Sünden anderer Nationen zu vergessen. Man verlangte Trauerarbeit, und sie wurde in einigen wenigen Ländern, wenn auch nur teilweise, geleistet. Aber wo bleibt die Trauerarbeit für den Genozid an den Indianern? Für den jahrhundertelangen Sklavenhandel? Für die Massaker unter Afrikanern?

Die Liste ist endlos. Wir müssen uns nicht nur daran erinnern, welcher Grausamkeiten der Mensch sich schuldig macht, und, durch sein Schweigen, welcher Feigheit.

Wie soll denn unser Gedenken sein? Die Zwangsvorstellung des Rachegefühls, die zur inneren Tortur werden kann? Dann hätte also Friedrich Nietzsche recht, der sagte: ;,Kein Glück, keine Gelassenheit, keine Hoffnung, kein Stolz, kein Genießen des Augenblicks könnten bestehen ohne die Fähigkeit zum Vergessen."

Gedenken, das sich nur auf die Aufrechterhaltung von Rachegefühlen richtet, ist unerträglich. Manche Menschen anerkennen nur die Erinnerung an das Unglück, das ihren Familien, die Erniedrigung, die ihrem Volk zugestoßen ist.

Ihr Herz ist noch nach Generationen so schwer und so beladen wie ihr Andenken. Ein Gedenken, das nach ritueller Rache als Trauer- und Treueverpflichtung an die Toten verlangt, bedeutet einen Rückfall in barbarische Traditionen der menschlichen Vergangenheit.

Die religiösen Traditionen scheiden dagegen niemals Vergebung und Gedenken. Jesus selbst etwa, hat er nicht gesagt: „Wenn du am Altar opferst und du erinnerst dich, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, laß deine Opfergabe und gehe vorher zu ihm, um mit ihm Frieden zu schließen."

Erinnerung an die Vergangenheit soll nicht dazu dienen, sich selbst zu beschönigen oder um Bitterkeit und Rachegefühle zu unterhalten, sondern um die Gegenwart zu leben und die Zukunft vorzubereiten. Das Vergeben trotz aller Wunden als Hoffnung auf die Zukunft ist eine - religiöse -Handlung, die ebenfalls die kollektive Erinnerung verwandelt. Vergeben ist nicht Vergessen des Gewichts des Bösen und der erduldeten Leiden. Das Vergeben ist ein Akt der Hoffnung, eine Wiedergeburt für das menschliche Wesen.

Vergeben befreit, denn es ist ein Schöpfungsakt der an der österlichen Wiedergeburt teilnimmt, es befreit den Täter und das Opfer von ihrer Vergangenheit zu einer neuen Zukunft. Vergeben ist nicht das Vergessen der menschlichen Schwächen, es macht dem Menschen das Böse, das in ihm steckt, bewußt.

Christus hat niemals das Böse akzeptiert, das er beim Namen nannte und bekämpfte bis zum Tod, zum Sieg des Lebens. Nur der Glaube kann noch hoffen lassen, daß der Täter eines Tages in sich selber das „Bildnis des Herrn" erkenne und daß er es im anderen respektiert.

Die Liebe bleibt die tiefe Kraft, die dem Menschen sein wahres Gesicht zeigt, die Quelle seines Menschseins.

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