6862794-1977_43_13.jpg
Digital In Arbeit

Alle unsere Spiele

Werbung
Werbung
Werbung

Eine ledige Mutter schreibt ihrem Sohn Briefe, um’seine Frage nach dem Vater zu beantworten. Die Briefe werden zu Tagebuchaufzeichnungen, werden Rechenschaftsberichte eines Lebens. Die Frage wäre an und für sich leicht zu beantworten: In der Nachkriegszeit wurde ich von Russen vergewaltigt, ich kenne Deinen Vater überhaupt nicht. Aber so einfach kann sie es sich nicht machen. Soll sie ihrem Kind einen solchen Schock zumuten? Soll sie ihm gestehen, daß sie ihr Kind anfangs beseitigen wollte, daß sie es haßte? Mutter und Sohn sind so aufeinander verwiesen, daß sie ihn Verständnis ihrer Situation lehren und er sein Leben, sein Schicksal verstehen möchte. Wie kann man einander überhaupt verstehen, wenn man verschiedenen Generationen und Zeiten angehört, ganz andere Erfahrungen voraussetzen muß?

Und hier wird der Bericht zum Versuch, eine Epoche zu bewältigen. Aber kann man dieses Bewältigen einer anderen Generation, die keine Ahnung hat worum es ging, überhaupt mittei- len? Jedenfalls, wenn man von der Bewältigung einer Epoche, hier konkret der NS-Zeit, sprechen kann, liegt hier in diesem Roman einer der wenigen gelungenen Versuche vor. Den Vätern nur Anklage ins Gesicht schleudern, nur Zeitkritik betreiben, ist zuwenig, schon gar nicht genügt die Heuchelei einer billigen Entnazifizierung (die Kleinen mußten daran glauben, die Großen haben sich’s gerichtet). Die Heldin des Romans zeigt, wie sie als Mädchen begeisterte Nationalsozialistin war, wie ihre Liebe zu einem SS-Mann von einem Glauben getragen war, wie dieser Glaube enttäuscht wurde, wie schwer es ihr wurde, das einzugestehen. Die Verstrik- kungen in Umgebung, Eltern, Freundinnen, Behörden, lassen sich nicht einfach auflösen. Wieviel an Bewußtem und Unbewußtem, Wahrhaftigkeit und Selbsttäuschung, Idealismus und Feigheit, auf allen Seiten, spielte da mit, wer vermag das zu entwirren! So wird die Rechenschaft über eine Epoche zur Rechenschaft über das ganze menschliche Leben, gewinnt der Roman menschliche Größe, hinter der geschichtlichen Epochen zu bloßen Anlässen herabsinken.

Auch heute gibt es Nazis, immer gibt es sie: die Hundertprozentigen, die Unfehlbarkeit sich Anmaßenden, die Unduldsamen, die offene oder anonyme Diktatur ausüben. Hier geht es um ein menschliches Problem inneren Reifens. Auch noch so gut gemeinte Reformen tragen bereits die Enge in sich, an der andere ersticken werden (Canetti).

Die Mitterer rolltin diesem Werk das ganze Problem menschlichen Sprechens, des Sich-bewußt-machens in der Sprache auf. Nimmt die Gedankengänge der heutigen Sprachphilosophie und der zeitgenössischen Literatur auf. Nur ist es für sie nicht ein wissenschaftliches Problem, nicht ästhetische Fliesenlegerei oder literarische Masche, mit der man ins Geschäft einfadelt, sondern menschlich verantwortendes Fragen und Suchen nach Sinn. Wir können, so wir ehrlich sind, nur Versionen liefern, wir wissen nie das Richtige, immer nur mehr oder weniger Richtiges, durch uns gedeutetes bis verdeutetes Geschehen, halb aus Schuld, halb aus Unschuld. Mitterer bringt ein einfaches Beispiel: die stille Post, jenes Kinderspiel, wo dem Ersten einer Reihe ein Wort ins Ohr geflüstert wird, er flüstert es weiter, reihum geht das Wort, und der Letzte hat es laut herauszusagen. Was für ein Unsinn kommt oft dabei heraus. So ist menschliches Sprechen, zum Lachen wie zum Weinen. Alle unsere Spiele!

Nur die Unduldsamen, die Bornierten, Junge und Alte, die ihren inneren Nazismus nicht abgelegt haben, urteilen und verurteilen, moralisieren mit erhobenem Zeigefinger: sie wissen alles, können alles und partizipieren in besonderer Weise an der Unfehlbarkeit des Papstes - und zünden Scheiterhaufen an! Konservative und Progressive, Nazis und Demokraten, Linke und Rechte haben da einander nichts vorzuwerfen.

Ein wirklich „christliches” Werk ist dieser Roman, sofern man diese mißverständliche Klassifizierung einmal gebrauchen will. Nicht im Sinn eines Bekenntnisses zum Christentum. Im Gegenteil: die junge Mutter hat ihren Glauben verloren, gerade weil auch ihre christliche Umgebung nicht gefeit war gegen dieses innere Nazitum; ob aus Heuchelei, Feigheit, Fanatismus, Idealismus, mag dahingestellt bleiben. Doch christlich ist der Roman im Sinne eines erschütternden menschlichen Zeugnisses, das nicht mit politischen, modischen, zeitgemäßen Slogans die Bewältigung und Reform des Lebens, die „Veränderung der Gesellschaft” angeht, sie hält keine probaten. Lösungen in der Hand oder sichere Antworten im Mund, weder religiöse noch weltliche, schon gar nicht parteipolitische, sondern regt durch den Gang der Handlung an, unentwegt auf dem Weg zu bleiben, Weg-Wahrheit- Le ben ineinander verwoben zu sehen, bei dem Versuch, ins Reine zu kommen, den mühseligen Weg der Wahrhaftigkeit einzuschlagen, und was sich nicht lösen läßt, vielleicht nie lassen wird, mit der Liebe zu bewältigen. Eine andere Möglichkeit gibt es kaum. Dabei keineswegs im tierischen Emst zu erstarren, der sich und die ändern vergewaltigt, sondern all diese unsere Spiele zu innerer Freiheit und Gelöstheit zu führen, das ist wirklich „verändernde” Kunst.

ALLE UNSERE SPIELE, Roman von Erika Mitterer, Verlag Josef Knecht, Frankfurt a. M., 1977, 311’ Seiten, öS 239,40

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung