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Im Namen der Menschlichkeit

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Landauf, landab ist man jetzt mit Eifer bestrebt, dem Nazismus den Garaus zu machen, aus dem Antlitz Europas die letzte Falte, das letzte Mal verschwinden zu machen, die an diese Entwürdigung der Menschheit erinnern könnten. Es soll künftig nur mehr in den Büchern der Geschichte die Rede von dieser Verirrung sein, die Unglück und Schrecknisse ohnegleichen über viele Völker und Staaten gebracht hat. Nur mehr als Warnung soll der Gedanke an den Nazismus weiterleben. Es ist recht so. Nicht anders soll es sein.

Aber gebrauchen wir, die wir die Narben aus dem schweren Erlebnis an uns tragen und wissen müssen, um was es geht, auch die rechte Methode? Wir suchen mit den Menschen irgendwie fertigzuwerden, die im großen oder kleinen verantwortliche Träger dieses Systems gewesen sind. Aber wir sind in großer Gefahr, mit der Gedankenwelt des Nazismus nicht fertigzuwerden, weil unser Tun oft selbst noch tief in sie verstrickt erscheint. Die Menschen von heute werden vergehen, aber vielmehr kommt es darauf an, das unheilvolle geistige Gebilde, die verhängnisvolle Dogmenwelt der Sekte, alles das auszurotten, was die nazistische Erkrankung der Gehirne herbeiführte. Die Entthronung der angeborenen Menschenrechte durch die Gewalt, die Verneinung der Gesetze der Menschlichkeit und aller sittlichen Lebenswerte — das ist Nazismus. Trotzdem wir ihn alle an unseren Leibern verspürt haben, bleibt er noch vielen im Unterbewußtsein, sodaß unsere Praxis noch immer von dem Geiste beeinflußt ist, den wir endgültig austilgen wollen. Das ist um so merkwürdiger, als es bei uns keine Partei gibt, die nicht in ihrem Programm sich zu den Grundsätzen edler Menschlichkeit bekennen und dieses Wollen sogar an die Spitze aller ihrer Bestrebungen stellen würde. Wie immer diese Programme in ihrer Ganzheit lauten mögen, so wird doch jeder ihnen die Achtung zollen müssen, daß sie auf eine bessere Ordnung der menschlichen Beziehungen, eine bessere Übung der Gerechtigkeit und auf die Herstellung einer besseren Gesittung abzielen. So sollte es unmöglich sein, daß aus irgendwelchen Stimmungen, aufgebrachten Reaktionen heraus ein solches Wollen über den Haufen gerannt wird. Naheliegender wäre ein mutiger Wetteifer, die Humanität mit allen Kräften wiederherzustellen und den Geist des Nazismus auszulöschen. Ihn wird nicht die Gewalt besiegen, sondern wieder nur der Geist, die Widerlegung durch das sittliche Handeln.

Es ist kein Zweifel, daß das österreichische Volk, verglichen mit manchen anderen Völkern Europas, eine Mäßigung bewiesen hat, die zu besten Hoffnungen Anlaß gegeben hat. Aber nicht alles, was wir tun, hält vor dem Richterstuhl der Humanität und des christlichen Gewissens stand.

Das Gesetz, das die Aberkennung des österreichischen Staatsbürgerrechtes gegenüber sogenannten Illegalen zuläßt, führt zu Härten und Konsequenzen, die unsittlich sind. Es nützt nichts, daß man der unschuldigen Gattin des Exilierten einräumt, die österreichische Staatsbürgerschaft für sich zu behalten. Optiert die Gattin nicht, zieht sie es vor, mit ihrem Gatten in die Verbannung zu ziehen, so geht sie mit ihren Kindern einem ungewissen, vermutlich sehr traurigen Schicksal entgegen, das Schuldlose trifft. Macht sie aber von ihrem Optionsrecht für Österreich Gebrauch, läßt sie sich herbei, ihren Gatten allein in die Fremde wandern zu lassen, so bedeutet dies die Zerstörung der Familie, das Vaterloswerden unschuldiger Kinder, wahrscheinlich auch den Ruin der wirtschaftlichen Grundlage der Familie. Hat ein „Illegaler“ sich schwer vergangen,so haben unsere Richter Strafmittel genug, um nach Gebühr zu strafen. Hat der „Illegale“ sich nur durch seine Parteizugehörigkeit und sonst nichts vergangen, so steht auch für ihn der Verlust der Heimat und vielleicht der Familie außer dem gerechten Maß. Auf die Gefahr, als „Kulturfaschisten“ hingestellt zu werden, sei es gesagt — und es sagt dies einer, der selbst für seinen Kampf gegen den Faschismus durch sieben Jahre Schweres erlitten hat —, daß die drohende Zerstörung ungezählter Familien eine nicht zu rechtfertigende Verletzung des Naturrechtes, einen Eingriff in die intimsten und geheiligten Bezirke der menschlichen Existenz darstellt. Ähnlich liegen die Verhältnisse, wo es sich um Ehen handelt, die seit 1938 von Reichsdeutschen mit Österreicherinnen geschlossen wurden. In den Jahren der nazistischen Herrschaft hat die österreichische Bevölkerung jenen Frauen, die als geborene Christinnen treu bei ihren Gatten ausharrten und mit ihnen Not und Erniedrigung und auch den Tod zu teilen bereit waren, Achtung und, wo sie konnte, Hilfe erwiesen. Nichts hat den Nazismus unmenschlicher erscheinen lassen, als sein Verhalten gegenüber Mischehen, zumal wenn die Gattin der nichtarische Teil war. Wir dürfen dieses Beispiel nicht nachahmen, wenn wir selbst nicht nazistischen Methoden folgen wollen. Gibt das Gesetz keinen anderen Ausweg, so ist es eben im Geiste der Humanität und einer lebensvollen, auf die Fundamente geordneter menschlicher Gemeinschaft bedachten Demokratie zu ändern. Es sollte auch geprüft werden, ob wir von den in unser Land Geflüchteten, von denen Tausende, aus den Grenzgebieten Mährens und Böhmens stammend, unserer eigenen Bevölkerung nicht nur volks-, sondern auch eng Stammes- und artverwandt sind, nicht einen gewissen Teil bei uns aufnehmen können, anstatt sie über Nacht, unschuldige Menschen, dem Elend, vielleicht dem Untergang auszuliefern. Es ist wahr, unser Land ist arm, aber es befinden sich unter diesen Unglücklichen viele fleißige und tüchtige Menschen, die unser Land bei seiner wirtschaftlichen Regeneration brauchen kann. Barmherzige Menschlichkeit zu üben, ist immer der höchste Ehrentitel und das höchste Anrecht auf den Segen einer ewig waltenden Gerechtigkeit gewesen.

Wir wüßten keine Ideenrichtung in unserem Lande, der diese Gedanken zuleide sein müßten und sind überzeugt, daß nicht Übelwollen, vielmehr das Nichtabwägen aller Folgen in eine Bahn gerissen hat, über die niemand lauter triumphieren könnte, als die schmachbedeckten Urheber des Systems, das wir bekämpfen wollen und dessen Leben wir ungewollt zu verlängern drohen.

Es mag schwer sein, sich von der Psychose zu hefreien, die der Nationalsozialismus hinterlassen hat: von der Psychose, durch Unrecht und Gewalt altes Unrecht gutmachen und neues Recht setzen zu können. Unser Volk wird dennoch in allen seinen Schichten und Parteien den Mut finden müssen, den schweren, aber notwendigen Weg der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu gehen, wenn es der Gefahr begegnen will, daß sich die österreichische Demokratie an sich selbst versündige.

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