6854613-1977_10_02.jpg
Digital In Arbeit

Vollbeschäftigt mit dem Vollbeschäftigungsthema

Werbung
Werbung
Werbung

Niemand weiß, woran es wirklich liegt, aber Politiker und Nationalökonomen werden in regelmäßigem Wechsel mit jeweils einem bestimmten Problem „voll” beschäftigt - war es zu Ende der sechziger Jahre das Strukturproblem (Koren-Plan, SP-Wirt- schaftskonzept), so folgten die Stabilitätsdiskussion und die Entdeckung der Umweltpolitik. Augenblicklich dominiert die Vollbeschäftigungsfrage. Es war und mag inopportun sein, irgend etwas an dieser Frage in Frage zu stellen, denn nicht in Übereinstimmung mit dem Hauptton der Diskussion mitzureden, wird fast als unseriös betrachtet.

Ich möchte gleich klarstellen, daß nichts dagegen zu sagen ist, wenn Wirtschafts- und Sozialpolitik versuchen, für alle Arbeitswilligen Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Aber die Verbissenheit der Diskussion führt schon so weit, daß jeder oder jede Arbeitsfähige eine von der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als wertschaffend bezeichnet« Tätigkeit ausüben muß: Wer das nicht tut, verhindert potentielles Wachstum und hemmt die Wohlstandsvermehrung.

Daher: Hausfrauen, hervor hinter dem Herd! Bauern, weg vom Voll- in den Nebenerwerb! Rentner, macht euch weiter produktiv nützlich! Un terbeschäftigte, sucht Zweitbeschäftigung! Der Reichtum einer Volkswirtschaft scheint mehr und mehr in der Zahl der Beschäftigten gesehen zu werden, deren Steuern und Beträge nebenbei eine immer weniger verzichtbare Voraussetzung für das Funktionieren der Sozialversicherung und der staatlichen Finanzwirtschaft geworden sind.

Reich und hochentwickelt ist eine Volkswirtschaft meines Erachtens dann, wenn möglichst wenige arbeiten müssen, um sich den gewünschten Lebensstandard - allein oder für die Familie - leisten zu können, wenn möglichst wenige deshalb verhalten sind, Arbeiten zu übernehmen, die keine Chance zur Persönlichkeitsentfaltung bieten, sondern bloß mechanisch, gedankenlos abgewickelter Gelderwerb sind. Nicht auf die Anzahl der Arbeitsplätze schlechthin, sondern auf die Zahl der Produktiven sowie den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechenden, ausreichenden Einkommen vermittelnden Arbeitsmöglichkeiten kommt es längerfristig an.

Ich pendle seit Jahren zwischen meinem Wohnort und meiner Arbeitsstätte in Wien. Bis zu drei Stunden täglich verfolge ich die Klagen vieler berufstätiger Frauen, die arbeiten gehen .müssen, weil ihre Männer in strukturell problematischen Unternehmen zuwenig verdienen, um die Familie erhalten zu können, höre die Raunzereien der Schlüsselkinder („mit’den Eltern kannst am Abend nichts anfangen, sie kocht und wäscht, er sieht fern, zum Wochenende sind sie beide müde”) und teile die Feststellung von Arbeitern über unzureichende Einkommen in bestimmten Branchen.

Die enge Fixierung auf die Arbeitsplatzproblematik in der erwähnten Form birgt eine weitere Gefahr in sich: Strukturell längerfristig nicht haltbare Wirtschaftsbereiche müssen, koste es, was es wolle, gehalten werden - wie soll es da zu einer vernünftigen Arbeitsteilung mit den Entwicklungsländern kommen? Bei einem Seminar internationaler Gewerkschaftsführer, bei dem ich jüngst einen Vortrag zu heilten hatte, wurde in höchsten Tönen die Entwicklung der Dritten Welt beschworen. Auf die Frage, Welche Gruppe bereit sei, nachhaltige Strukturverschiebungen hinzunehmen, etwa rohstoffintensive Produktionen in die Entwicklungsländer zu verlagern, herrschte Pause: Im Prinzip ja, aber nicht bei uns anfangen.

Auch das internationale Edelproletariat der Gastarbeiter kann gerechte rweise nicht auf Dauer als Puffer auf dem Arbeitsmarkt herhalten - das Kapital und nicht der Mensch sollte wandern.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß man nicht gegen den herrschenden Wind schreien soll, aber nichtkonforme Denkanstöße sollen der offenbaren Uniformität der geäußerten Meinungen abhelfen und ein Beitrag zu einer flexibleren Behandlung des dominierenden Generalthemas sein.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung