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Von West- zu Rest-Europa, 1. Akt

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Die Befürworter einer Sozial! sierung plus Neutralisierung, also der Finnlandisierung Europas von Skandinavien über die Bundesrepublik Deutschland bis Österreich jubelten auf, als Willy Brandt mit seiner parlamentarischen Minderheit dann doch noch die Ostverträge unter (das freilich brennende) Dach brachte; sie bejubelten den bislang größten Sieg der sowjetischen Europa Politik seit dem Ende des Krie ges: den hinter der SchmeicheL formulierung von Gewaltverzicht — den übrigens die Bundesrepu blik in völkerrechtlich relevanter Form, wenn auch damals gegen die Stimmen der Sozialdemokrat ten, schon 1955 geleistet hat — sie bejubelten also den hinter dieser Schmeichelformulierung versteckten Separatfrieden zwischen Moskau und Bonn.

Mit geduldiger Konsequenz hatten die Russen die Bundesrepublik als den Hort von Faschismus, Militarismus und Revanchismus diffamiert, wobei sie in zunehmendem Maße von den linksradikalen bis linksliberalen Stimmungsmachern in Deutschland selbst unterstützt wurden. Gleichzeitig steigerten sie die militärische Bedrohung des zentralen Westeuropa dermaßen, daß insbesondere die Deutschen, als schon zweimal gebrannte Kinder, an ihrer Fähigkeit zur Selbstverteidigung zu zweifeln begannen. Unter diesem doppelten psychischen Druck ging die deutsche Regierung dann in die Verhandlungen — und verschenkte natürlich, was sie sich hätte abkaufen lassen müssen: die rechtliche Anerkennung des faktischen Verlustes der Ostgebiete und der faktischen Teilung des verbliebenen Deutschland in zwei souveräne Staaten. Das schlechte Gewissen der Bundesregierung äußerte sich in jener verschämten Umschreibung, obwohl, wie gesagt, ein Gewaltverzicht längst schon geleistet war und obwohl die Verträge dem Wortlaut wie auch dem Sinne nach Grenz- und Teilungsverträge sind und als solche ja einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag bedurft hätten; aber mit dem miserablen Trick, das tatsächlich Gemeinte und Vereinbarte zweideutig zu formulieren und konträr zu interpretieren, konnte Brandt sich um das Grundgesetz herumdrücken. Und angesichts des erpresserischen Drucks von innen und außen blieb dann der Opposition nichts anderes übrig, als ihre Vorbehalte in einer völkerrechtlich zwar relevanten, politisch aber nutzlosen Bundestagsentschließung zu den Ostverträgen zu deponieren.

Mit seiner durch Scheels Mangel an Seriosität nur noch kräftiger konturierten treudeutschen Schwärmerei hat Brandt seiner Nation den letzten Rest von innerem Frieden genommen, ohne ihr wenigstens den äußeren garantieren zu können. Denn nach russischer Logik folgt auf die Verträge noch nicht die Entspannung, sondern die Sicherheitskonferenz; und zwar mit dem gar nicht verheimlichten Ziel, die NATO auszulaugen und aufzulösen. Entspannung gibt es, nach eben jener Logik, nämlich nur innerhalb der Pax Russica. Und die Tendenz, sich dem „Friedenslager” zu assoziieren und allmählich zu integrieren, ist durch die deutschen Ostverträge gewissermaßen populär geworden, weit über Deutschland hinaus.

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