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Die Kunst von morgen funktionalisieren ...

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Besonders nach dem ersten Weltkrieg wurde man sich nahezu mit Erschrecken bewußt, daß die Künste in der Gesellschaft funktionslos geworden sind. Das L'art pour l'art, von dem französischen Philosophen Victor Cousin im Jahr 1818 ausgesprochen, von Theophile Gautier und Charles Baudelaire aufgegriffen, zeigte die Kluft auf. Mehr noch als zwischen den beiden Kriegen ist man heute bestrebt, bildnerisch Geschaffenes in die Gesellschaft zu reintegrieren, ihm eine Funktion zuzuordnen. Das zeigt die Pop-ort, das Eingreifen in die Umwelt versinn-licht, allerdings funktionslos, das Environment. Die neuesten Entwicklungen auch des Theaters gehen mit Vehemenz — wie schon bei Piscator — dahin, eine unmittelbare politische Wirkung zu erreichen; so wird in den letzten Monaten in der deutschen Bundesrepublik das Straßen-theater propagiert. Das bisher zwecklos Geschaffene soll einen Zweck, eine Funktion erhalten, womit aber im bildnerischen Bereich keineswegs die angewandte Kunst gemeint ist.Stenvert will mit seinen Objekten die „funktionelle Kunst des 21. Jahrhunderts“ begründen. Nicht L'art pour l'art, sondern L'art pour l'homme habe heute als Formel zu gelten. Der Betrachter solle sich der Voraussetzungen seiner Existenz bewußt werden, Existenzerhellung, sittliche Fundierung, Selbstbesinnung, Rehumanisierung, Läuterung bewirken. Sartre sagt von der Kunst des 17. Jahrhunderts — er spricht von der Literatur —, sie sei eminent moralisierend, sie halte dem Leser schweigend sein Bild vor und mache es ihm dadurch unerträglich. Ähnlich arbeitet oftmals Stenvert.

Er wendet sich gegen Formalismus und Abstraktion, gegen Destruktives, er erklärt, die Zeit der Experimente, die im letzten Jahrzehnt eine erhebliche Bedeutung besaßen, sei vorbei. Wenn er nun gerade heute nahezu mit Besessenheit die Mittel der Kunst für moralische Wirkungen einsetzt, so wohl deshalb, weil sich in unserem Jahrhundert das Verbrecherische im Menschen ins Ungeheuerliche gesteigert hat, wir erleben es schaudernd Tag für Tag. Denis de Rougemont tragt, was könne man im Sinn einer menschlicheren und somit göttlicheren Ordnung tun, um die Welt zu verbessern. Stenvert versucht es mit Hilfe seiner Objekte.

Die aus ihren Zweckverbänden gelösten Dinge verschiedenster Art vereint er zu einem Unisono. „Das Entfernteste miteinander verbinden“, empfahl der Humanist Ema-nuele Tesauro im 17. Jahrhundert. Das geschieht hier, dieses Unisono soll etwas Bestimmtes ausdrücken, eine Erkenntnis, eine Forderung. Dazu bedarf es des auslösenden Worts, das in Schriftzeilen an den Objekten angebracht ist, wodurch das Zueinander der Gegenstände für den Betrachter seinen Sinn erhält. Hierin gibt es ebenfalls eine Parallele zum heutigen Theater. In „Paradise now“, der neuesten Produktion des Living Theatre, werden nur kurze, sloganartige Sätze gesprochen. Auch bei einer Vorführung des Open. Theatre im heurigen Nachtstudio der Wiener Festwochen war dies der Fall. Stenvert strebt ein Spontanerlebnis an, doch ist das keineswegs stets möglich, es bedarf meist trotz der Beschriftung des Nachdenkens, des Kombinierens, um den Sinn zu erfassen. Der Gehalt ist rein rational, er besteht in einer sprachlich formulierbaren Aussage, die sich nicht stets mit der Beschriftung erschöpft, sondern darüber hinausgehend vom Betrachter erarbeitet werden muß. Diese geistige Mitarbeit ist erforderlich, wodurch sich der Eindruck verfestigt, die erstrebte Selbstbesinnung eintreten kann.

Symbole sind laut C. G. Jung vieldeutig, unausschöpfbar. Die Objekte Stenverts bleiben um ihrer moralischen Schlagkraft willen, um allenfalls provokativ zu wirken, eindeutig, sie sind daher keine Symbole. Es sind aber auch keine Allegorien wie etwa eine Skulptur, die eine Frauengestalt darstellt und „Donau“ benannt ist. Das Uhrwerk einer Taschenuhr dagegen, von Stenvert an einer Wandtafel angebracht, läßt durchaus an den Begriff „Zeit“ denken. Gäbe es rationale Symbole, müßte man diese Objekte so bezeichnen. Kunstwerke besitzen einen metaphysischen, unausschöpfbaren Gehalt, hier ist er um der moralischen Funktion willen durch eindeutig Rationales ersetzt. Die formalen Reize sind erheblich, Stenvert erweist nicht selten Raffiniertheit, es gibt da alle möglichen, überaus ansprechend wirkenden Effekte. Das Formale ist hier überlegen wirkendes Mittel der rationalen Aussage. Die oftmals sehr verlockende Form dient als „Angel“, als Anreiz.Menschliche Situationen, die Stenvert in Bildwerke umsetzt, können auch witzig-ironisderend wirken. Ein Kasten ist beschriftet: „Etre occupe completement par une femme.“ Dieses totale Okkupiertsein von einer Frau wird durch einen aufgeschnittenen, vergoldeten Männerkörper dargestellt, nach dem Frauenhände greifen und in dessen Kopf, in dessen Unterleib je eine Frauenfigur sitzt. Das ist anatomisches Panoptikum. Was abstoßend, vielleicht schockartig an den Seziersaal gemahnt, wird durch das Gold fast hohnvoll attraktiv gemacht, und damit analysiert Stenvert nahezu medizinisch die Sexwdrkung der Frau auf den Mann. Beinahe liebenswürdig wirkt das Objekt „Sich vermehren müssen und mit duftenden Blüten ködern“. Es zeigt ein gläsernes, mit Blumen gefülltes Frauenbein. Sieht man genauer hin, gewahrt man am oberen Rand winzige Angeln. Was sie bedeuten, ist unschwer zu erraten.

Zahlreiche Objekte fordern zur Auseinandersetzung mit politischen Fragen heraus. Es geht um das „Manipuliertwerden“ oder um aggressive Politiker, denen Stenvert gläserne Boxhandschuhe empfiehlt, damit sie sich in ihrer verbrecherischen Vehemenz die Hände verletzen. Eine Wandvitrine „Metaphysik des Heldentums“ zeigt pompöse Orden und daneben winzige Figür-chen, Invalide. Die Problematik des Heldentums wird an der Diskrepanz zwischen dem Schein bewußt hypertropher Ehrungen und der Realität dauernder Verkehrtheit aufgezeigt. Drei große, umgehbare Vitrinen sind betitelt „Stalingrad — oder Rentabilitätsberechnung eines Tyrannenmords“. Eine Anzahl Gegenstände, Photomontagen, Schriftbänder, Dokumentarberichte, werden zu erschütternden Zeugnissen unmenschlichen Verhaltens.

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