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Im Frankreich der Romantik

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LAMENNAIS. SES AMIS ET LE MOUVEMENT DES IDEES A L'EPOQUE ROMANTIQUE (1824/1834). Von Jean Rene Derre. C. Klincksieck, Paris, 1963. 765 Seiten.

Der früher in Wien am französischen Kulturinstitut und an der Universität tätige Literaturhistoriker J. R. Derre, der nach vorübergehender Lehrtätigkeit an der Universität Athen nun Ordinarius für Literaturwissenschaft an der Universität Lyon ist, legt uns in diesem umfangreichen Werk über Lamennais und die Ideengeschichte zur Zeit der Romantik in Frankreich das Ergebnis jahrelanger Forschung vor und erschließt somit neue, höchst interessante und sogar aktuelle Perspektiven, die seiner streng wissenschaftlichen, nach den besten Traditionen der Pariser Sorbonne verfaßten Doktorarbeit einen allgemeinen und permanenten Wert sichern.

Im Vergleich mit der außerordentlichen philosophischen Gärung der deutschen Romantik bietet die landläufige und zumeist oberflächliche Auffassung vom Frankreich der Restauration eher das Bild einer Verflachung des Geistes und der religiösen Forschung, in dem sich nur die ästhetisierende Apologie des Christentums durch Chateaubriand der ungläubigen beziehungsweise antiklerikalen Einstellung der geistigen Söhne der Enzyklopädie entgegenstellt.

Wird diese Periode aber einer ausführlichen Analyse unterzogen, so stellt man eine außerordentlich rege Tätigkeit katholischer Denker fest: J. de Maistre, Bonald einerseits, und anderseits Eckstein, Salinis, Gerbet, Lacordaire, die um Lamennais treu geschart oder zumindest im Geiste seiner philosophisch-theologischen Erneuerungsversuche kämpfend, ihm in seiner späteren Revolte gegen Roms Urteil nicht gefolgt sind, haben eine fruchtbare Forschungsarbeit geleistet, den Ghetto-Komplex des katholischen Denkens überwunden und somit auf lange Sicht die Zusammenarbeit des Glaubens und der Wissenschaft, die sich trotz des Positivismus und des Modernismus des 19. und 20. Jahrhunderts in unseren Tagen entfaltet hat, sicher angebahnt.

Zu dieser intellektuellen Gewissenserforschung der katholischen Theologie im Frankreich der Romantik hat der deutsche Einfluß in schwer abzuschätzender Weise beigetragen. Derres Verdienst ist es eben, in den Fußstapfen von G. Goyau, L. Ahrens, L. Foucher, E. Hocedez und Ed. Vermeil kühn und umsichtig zugleich diese deutsch-französische Osmose in ihrer ganzen aufschlußreichen Tragweite aufgezeigt zu haben. Wackenroder, Fr. Schlegel, Görres, F. Creuzer, J. A. Möhler werden somit der Geistesgeschichte Frankreichs einverleibt: sie waren näm-

lich nicht nur Importware aus dem benachbarten, aber immerhin fremd oder befremdend wirkenden „Land der Dichter und Denker“, sondern darüber hinaus wurden die besten ihrer Werke bearbeitet und dem französischen Denken assimiliert.

Für den Historiker der Geistesgeschichte, für den Philosophen und den Theologen, aber auch für den Literaturkritiker, der über die rein formale Analyse verschiedener Werke von St. Beuve, V. Hugo, Vigny, Lamartine, Michelet oder des späteren Chateaubriand hinaus dem gedanklichen Rückgrat der französischen Romantik auf den Grund gehen will, stellt Derres imponierendes Werk, das, in flüssiger Sprache verfaßt, zwar nicht immer eine leichte, stets aber eine ertragreiche Lektüre bietet, einen bedeutenden Beitrag zur Literaturwissenschaft dar.

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