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Lamennais

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Die Wiedererweckung des Christentums im 19. Jahrhundert in all ihrer Problematik ist verkörpert in der bedeutenden und in vieler Hinsicht rätselhaften Gestalt des Abbe Felicite de la Mennais. Die ungeheuren Verdienste, die sich dieser Denker um die Religion erworben hat, sind von Veuillot und vielen anderen hervorgehoben worden. Durch sein „Essai sur l'Indifference en Matiere de Religion“ hat Lamennais (wie er sich später nannte) einen grundlegenden Beitrag zur katholischen Apologetik des 19. Jahrhunderts geleistet. Beinahe noch bedeutsamer war jedoch sein Versuch, der Kirche die Dringlichkeit einer Auseinandersetzung mit dem Liberalismus und der sozialen Bewegung der Arbeiterklasse-ans Herz zu legen. Lamennais' Wirksamkeit in dieser Richtung fällt in eine Epoche, in welcher die Würdenträger der katholischen (wie übrigens auch der anglikanischen) Kirche in politischer und sozialer Hinsicht dazu neigten, sich in selbstgerechter Weise in Sicherheit zu wiegen. Gewissermaßen kann jene geistige Trägheit als Er-Schöpfungserscheinung ausgelegt werden; hatte die Kirche doch während der Französischen Revolution und wiederum unter Napoleon äußerst kritische Zeiten durchgemacht. Als dann in den Jahren 1814 und 1815 die restaurierten Flerrscher der Kirche ihren Schutz versprachen und so manches althergebrachte Privileg des Klerus wiederherstellten, da war es verständlich, daß dieses Angebot angenommen wurde. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Kirche den Mächten der Restauration zuviel, den politischen und sozialen Gegnern derselben aber zuwenig Vertrauen entgegengebracht hat. Männern von Weitblick, wie Lamennais einer war, konnte es. nicht entgehen, daß die europäischen Herrscher der Restaurationsperiode die Religion häufig als „Instru-mentum Regni“ benutzten, nach der Art des „weisen Mannes“, der dem Sophisten' Kritias zufolge die Entdeckung gemacht hatte, daß der Götterglaube eine heilsam abschreckende Wirkung auszuüben imstand ist. So hat Lamennais bereits 1830 ganz klar erkannt, daß die schützende Hand der damaligen Regierungen der Kirche unter Umständen zu großem Schaden gereichen konnte. Das Christentum stand, wie er sich ausdrückte, in Gefahr, erdrückt zu werden. Seine Einstellung beruhte außerdem auf der Ueberlegung, daß das geistliche Prestige der Kirche durch die Ausübung ihrer weltlichen Macht Schaden leiden könne. Diese Auffassung wurde von den großen italienischen Romantikern Manzoni und Rosmini geteilt. Letzterer jedoch wagte es längere Zeit nicht, das Manuskript von „Delle Cinque Piaghe della Santa Chiesa“ (Die fünf Wunder der Heiligen Kirche), welches bereits 18 3 3 vorlag, zu veröffentlichen. Lamennais, der impulsivere Charakter, bekannte sich offen zu seinen Ansichten und begann, unterstützt von einem Stab von glänzenden Mitarbeitern, im Herbst 1830 mit der Veröffentlichung des „Avenir“, der ersten Tageszeitung, die sich die Förderung des Katholizismus zur Aufgabe machte. Das Blatt nahm n. a. auch Stellung zu der Unterdrückung der Katholiken in Belgien, Polen und Irland und machte den aufsehenerregenden Vorschlag der Gründung einer liberalen katholischen Internationale mit einem Programm, das viel Aehnlichkeit mit den Zielen der heutigen christlich-demokratischen Parteien aufwies.

Lamennais und seine Gesinnungsgenossen vertraten die Ansicht, daß eine Wiedererstarkung des Christentums am ehesten auf dem Weg einer Annäherung der Kirche an die Mächte des Liberalismus zu erreichen sei, ja sie machten sogar den Vorschlag, die Kirche solle als Helfershelfer aller liberalen Gruppen auftreten, die vorerst noch über ganz Europa hin verstreut seien, von denen aber mit Sicherheit anzunehmen sei, daß ihnen die Zukunft gehöre. Die verwickelte Problematik jener beiden Vorschläge steht hier nicht zur Diskussion; letzterer war in seiner Einseitigkeit gewiß nicht ungefährlich, ersterer jedoch — der Gedanke einer Versöhnung der Kirche mit dem Liberalismus — muß, im historischen Rückblick betrachtet, wohl annehmbar erscheinen.

Der „Avenir“ hat aber auch der Arbeiterfrage seine Beachtung geschenkt. In einem vielbeachteten Aufsatz im November 1831 wies Charles de Coux darauf hin, daß das Problem des industriellen Proletariats an aktueller Bedeutung alle anderen Fragen in den Schatten stelle. Lamennais selbst ist oft zu diesem Thema zurückgekehrt. „Die ungeheure Frage des Pauperismus“, wie er sich auszudrücken pflegte, lastete auf ihm bis zu seinem Tode.

Hätte die Kirche Lamennais' und de Couxs Warnungsrufe beherzigt, dann wäre vielleicht der Abfall der Arbeiterklasse vom Glauben und damit der große Skandal des 19. Jahrhunderts, wie Papst Pius XI. ihn genannt hat, vermieden worden. Der katholische Historiker kann nur bedauern, daß die Haltung, die Leos XIII. Enzyklika „Rerum Novarum“ (1891) zugrunde lag, von der Kirche nicht bereits in den dreißiger oder vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts eingenommen wurde, zu einer Zeit, da die industrielle Revolution soziale Probleme von äußerster Dringlichkeit bereits hervorgerufen hatte. Und doch hat gerade damals die Kirche ihre verfehlte Opposition gegen die naturwissenschaftliche Revolution aufgegeben. Im Jahre 1835, beinahe 300 Jahre nach ihrer Veröffentlichung, sind die Schriften des Kopernikus endlich vom Index librorum prohibitorum entfernt worden. Wie schade, daß die Welt dann noch mehr als ein halbes Jahrhundert auf „Rerum Novarum“ warten mußte. Als es soweit war, hatte die Kirche ihre weltliche Macht eingebüßt, ihr geistliches Prestige jedoch war, wie Lamennais seinerzeit prophezeit hatte, deutlich im Ansteigen begriffen.

Die Enzyklika Papst Gregors XVI., „Mirari vos“, die am 15. August 1832 erlassen wurde, verurteilte einige der Hauptideen, die vom „Avenir“ vertreten worden waren. So wurde der Gedanke, daß der Kirche eine Wiedergeburt nottue, ebenso zurückgewiesen wie das Ideal der Pressefreiheit und das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat. Wenn die Enzyklika von den Fürsten als den „Teuersten Söhnen in Christo“ sprach, so war dies nicht leicht in Einklang zu bringen mit dem Wort Jesu in der Bergpredigt. Die Enzyklika wurde auch tatsächlich von einigen hohen kirchlichen Würdenträgern in Rom insgeheim scharf kritisiert. Dies geht aus einem Berichte hervor, der Lamennais und seine Freunde erreichte. Es handelt sich um einen Brief vom 4. September 1832, der dem französischen Historiker Dudon zufolge im Dossier Lamennais im vatikanischen Archiv aufbewahrt wird. Jedenfalls muß man meines Erachten Lamennais rechtgeben, wenn er für sich selbst — wie übrigens für jeden Katholiken — das Recht beansprucht, die Unfehlbarkeit des Papstes in politischen Dingen in Frage zu stellen. In einem späteren Werk, „Affaires de Rome“, hat er die Frage so formuliert: „Gibt es nicht einen wesentlichen Unterschied zwischen Politik und Religion, und bin ich verpflichtet, dem Papst auf ersterem Gebiet zu glauben?“ Als 16 Jahre nach Lamennais' Tod das Vatikanische Konzil das Dogma der päpstlichen Infallibilität promulgierte, wurden bekanntlich nur dogmatische und moralische, nicht aber politische Fragen einbezogen.

Es kann dokumentarisch nachgewiesen werden, daß Papst Gregor XVI. unter starkem Druck von Seiten der weltlichen Mächte gehandelt hat. Adrien Boudous Studie „Le Saint-Siege et la Russie, 1814 bis 1847“ (1922) und Liselotte Ahrens' Monographie „Lamennais und Deutschland“ (1930) enthalten den unwiderleglichen Beweis dafür, daß sowohl Zar Nikolaus I. als auch Metternich den Vatikan dazu veranlaßt haben, den „Avenir“ und die Ideale, für die das Blatt eintrat, auf das schärfste zu verurteilen. Josef Schmidlin hat in seiner „Papstgeschichte der neuesten Zeit“ (1933) nachgewiesen, daß die päpstliche Enzyklika „Singular! nos“ (1834), die des Papstes Antwort auf Lamennais' „Paroles d'un Croyant“ darstellte, sogar in ihrem Wortlaut auf Metternichs Anregung zurückzuführen ist. Von seinem Standpunkt aus konnte Metternich die eben erwähnte Enzyklika mit größter Genugtuung betrachten. Lamennais' Pläne sind also an der Allianz des Papsttums und der politischen Reaktion gescheitert — jener Allianz, die Lamennais in seinem Weitblick als große Gefahr für den Katholizismus erkannt hat.

Das Jahrhundert, welches zwischen Lamennais' Tod und unserer Zeit liegt, hat manches edle Ziel jenes kühnen Denkers der Verwirklichung nähergebracht. Daß Lamennais seiner Zeit in vieler Hinsicht voraus war, kann nicht bezweifelt werden. Doch gehen Biographien und Lobredner zu weit, wenn sie versuchen, eine grundsätzliche Folgerichtigkeit in Lamennais' Wirken zu konstruieren. Ich denke da besonders n Philip Spencers Londoner Radiovortrag ara hundertsten Todestag selbst (27. Februar 1954).

Allerdings geht diese „tour de force“ bereits auf Saint-Beuve zurück, der darauf hingewiesen hat, daß Lamennais' höchstes Ziel niemals ein anderes gewesen sei als die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation, die durch die Französische Revolution und die napoleonischen Kriege beinahe vernichtet worden war. Saint-Beuves Argument soll auch nicht ohne weiteres von der Hand gewiesen werden. Es ist gewiß richtig, daß Lamennais in diesem Bezug nicht inkonsequent gehandelt hat. Demgegenüber steht aber seine wahrhaft erstaunliche Inkonsequenz, was die viel entscheidendere Frage des christlichen Glaubens betraf. Viele Jahre hindurch schien der Glaube seine Seele ganz zu erfüllen. Zu jener Zeit vertrat er mit allem Nachdruck den Gedanken, daß der Wiederaufbau der Gesellschaft einzig und allein auf der Basis des Katholizismus zu erreichen sei. Aber selbst dann ließen ihn die ärgsten religiösen Zweifel nicht zur Ruhe kommen. In markantem Gegensatz zum heiligen Augustinus und Pascal hat Lamennais offenbar niemals die Gnade des vorbehaltlosen Glaubens erfahren. „Ich habe immer einen offenen Abgrund neben mir gesehen und habe meinen Blick abgewandt“, hat Lamennais viele Jahre später dem jungen Eugene Bore gegenüber geäußert.

Gewiß hatte Lamennais das Recht, die politische Einstellung der päpstlichen Kurie zu kritisieren. Auch ist es begreiflich, daß ihn die Art, wie Rom mit ihm verfuhr, verbittert hat. Und dennoch: welch unfaßbare Inkonsequenz liegt doch darin, daß ein und derselbe Mensch die Rolle eines begeisterten Herolds des Christentums übernimmt, später jedoch das Christentum völlig über Bord wirft und schließlich seine Zuflucht findet in einer vagen Ideologie, die aus deistischen, pantheistischen und das Proletariat vergötternden Elementen gemischt ist. Derselbe Mensch, der in mittleren Jahren die „Imitatio Christi“ in wundervoller Weise in seine Muttersprache übersetzt und jedem Kapitel noch seine eigenen frommen Meditationen hinzufügt, will gegen Ende seines Lebens nichts wissen von Christus!

Die extreme Unstetigkeit seines Charakters, die Baron d'Eckstein, der ihm nahestand, als Schlüssel zu dem Verständnis von Lamennais' Persönlichkeit bezeichnet hat, verriet sich auch in seinem häufigen Berufswechsel. Er begann als Lehrer, ließ sich im Alter von 33 Jahren zum Priester weihen, wurde hierauf berühmt als Autor profunder politisch-religiöser Werke, ging dann zum Journalismus über und endete als Verfasser politischer Streitschriften. Allerdings war ihm der Streitschriftstil von jeher besonders gelegen. Hat doch Blondel mit Recht von ihm gesagt: „Lamennais denkt fast immer gegen jemand.“

Der Gesamteindruck, den diese faszinierende Persönlichkeit hinterläßt, ist der eines großen, aber tief unglücklichen Genies. Stärker noch als alle anderen Romantiker, die damals gelebt haben, hat Lamennais die innere Tragik der Romantik an sich erfahren: die seelische Zerrissenheit, die aus dem unaufgelösten Gegensatz zwischen intensivster Glaubensschnsuchj und ebenso intensiven nihilistischen Anwandlungen entstanden war. ki wahrhaft erschütternder Weise hat dieser bedeutende Mensch die innere Disharmonie der romantischen Bewegung verkörpert, jener Bewegung, die sich so sehr nach Harmonie gesehnt hat, ohne sie — außerhalb des Reiches der Töne — jemals zu erreichen.

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