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Die Welt der Germanen — von Fribourg aus gesehen

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Le Monde Barbare. II: LesGermains. (LaFormation de l'Europe, Band V2). Von Gonzague de Reynold. Plön, Paris. 403 Seiten.

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Le Monde Barbare. II: LesGermains. (LaFormation de l'Europe, Band V2). Von Gonzague de Reynold. Plön, Paris. 403 Seiten.

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Das große Werk des Fribourger Kulturhistorikers und Literaturkritikers, der in so seltener Weise die Vorzüge des gelehrten Universitätsprofessors und des mit der anmutigen Leichtigkeit eines Homme du monde schreibenden Dichters in sich vereinigt, nähert sich dem Abschluß. Nun fehlt uns nur noch die Krönung, „Le Toit chretien“, das christliche Dach, unter dem die heidnischen Komponenten der abendländischen Gesittung geborgen und harmonisch miteinander verbunden sind. Schon jetzt können wir diesen gewaltigen Wurf dem Werk Jacob Burck-haidts, jenes andern genialen konservativen Schweizers, zur Seite stellen, mit dem Gonzague de Reynold, den nun 73jährigen Schloßherrn auf Cressier und Fribourger Hochschullehrer, soviel verbindet. Die Epopöe vom Werden und vom eigentlichen Sein Europas ist ein im besten Sinne helvetisches und zugleich französisches Vollbringen; sie verleugnet auch nicht die deutschen Beziehungen, die wir aller-oits bei dem mit deutscher Wissenschaft Wohlver-trauten finden. Schweizerisch sind der Horizont und der freie Blick, das scheuklappenlose und dennoch überlieferungsfrohe Urteil, französisch die begnadete Einsicht in geistvoll erahnte Zusammenhänge und der schöne Fluß des Erzählens, deutsch die Gründlichkeit und die Tiefe. Doch darüber hinaus bleibt das Höchstpersönliche des Universalhistorikers, der in seinem Sprachraum einzig an Rene Grousset das wohl noch überlegene Gegenstück hatte, der bei den Angelsachsen mit Toynbee und Christopher Dawson zu vergleichen ist. dem ich aber, trotz Fritz Kern — bei dem das Vorhaben und die Erkenntnis tragisch über das Verwirklichte hinausragten — keinen deutschen Rivalen wüßte. Denn der Belgier Jacques Pirenne und der Oesterreicher Friedrich Heer sind, de Reynold als Wortkünstler so wenig ebenbürtig wie der. gleichfalls weltumspannende Pole Oskar Halecki. Soviel, um den Mann und seine Leistung zu situieren.

Nun zu diesem den deutschsprachigen Leser vordringlich angehenden Band. Ludwig Schmidt, Alfons Dopsch, Fernand Lot mögen aus den Quellen unmittelbar geschöpft haben, Gierke, R. Schröder, Andreas Heusler unvergleichbare Kenner des Rechts und der Dichtung der Germanen gewesen sein: de Reynold ist das noch nie Geglückte wohlgeraten, eine knappe, allseitige und in sich geschlossene Schilderung des germanischen Wesens zu geben, die gleichermaßen romantischem Ueberschwung und gehässiger Verzerrung aus dem Wege geht. Den Wert der Darstellung des Schweizer Historikers erblicken wir nicht sosehr im klaren Herausarbeiten der Hauptlinien einer sehr verwickelten Geschichte der mannigfachen germanischen Völker und Stämme — obzwar auch derlei kein geringes Verdienst ist — als in der meisterhaften Charakteristik der sich immer wieder am konkreten geschichtlichen Beispiel bestätigenden germanischen Art. In jenem Bildnis sind die oft widerspruchsvollen Züge mit einfühlsamem Verständnis erfaßt, die wir aus der historischen Wirklichkeit, aus dem Heldenepos, aus den religiösen und gesellschaftlich-politischen Vorstellungen der Germanen schöpfen können. Der Autor hat einen wahrhaft allseitigen Blick, der höchstens bei den wirtschaftlichen Voraussetzungen erlahmt. Hiebet hätten wir gewünscht, daß er den Spuren Dopschs und dessen Schule nachdrücklicher gefolgt wäre.

Einteilung und Aufbau des Werkes sind mustergültig. Von der ersten Begegnung zwischen Germano-Kelten und Römern ausgehend, nicht ohne Rückblenden auf die Vorgeschichte, schildert de Reynold die allmähliche Infiltration der „Barbaren“. Einige Leitgestalten werden mit sicherer Hand porträtiert:

Hermann, Marbod, Julius Civilis, Arbogast, Stilicho, vor allem aber Aetius, Ricimer, Odoaker. Dann wendet sich die Erzählung den westlichen und östlichen Goten zu. Alarich, der große Theoderich erscheinen: Nun folgen Langobarden, Alemannen, Burgunder. Und jetzt ist die Bahn frei für die Vollender germanischen Durchdringens des antiken Abendlandes: für die Franken, deren Schicksale der Verfasser bis zu Chlodwig berichtet. Daran reiht sich eine Ueber-schau der merowingischen Staatsordnung und des fränkischen Wirtschaftssystems. In einem prächtigen dritten Teil behandelt Gonzague de Reynold die Gesellschaft, gründend auf der Sippe und auf der in Treue an den götterentsprossenen geborenen Führer gebundenen Gefolgschaft, gestützt auf ein wildes Kriegertum, das gewissermaßen im Nebenberuf bäuerlich oder seefahrend, ja kaufmännisch wirkt. Die germanische Glaubenswelt wird in ihren urhaften Wurzeln und in ihrer, kraft unvordenklicher Anfänge gesetzten Verwandtschaft mit der hellenischen heraufbeschworen. Sie enträtselt sich als eine Schau und nicht als ein durchdachtes System, das pessimistisch, schicksalergeben, traurig und von geheimnisvollen Aengsten geprägt ist. Berserkertum und Todesfurcht, Todessehnsucht, ein rastloser Dynamis-mus, das Verhängnis eines nie ruhenden Werdens finden erst am Christentum einen Stau. Das von erlesener Sprachkunst und von poetischem Schwung beseelte Gemälde der germanischen Religion wird hernach vom kritischen Historiker unter die Lupe des vergleichenden Forschers genommen, wobei sich der Autor mit den mannigfachen Deutern auseinandersetzt. Das germanische Heldenepos und das germanische Recht, die aus demselben Geist geschaffen worden sind wie der germanische Glauben, bieten de Reynold Gelegenheit, wiederum seine magische Gewalt zu erproben. Die schwierigsten Probleme der Textkritik und des Rechtswesens werden unter seiner Feder dem Unzünftigen zugänglich. Wie versteht er es, etwa am Urschweizer Beispiel, den Uebergang von der Markgenossenschaft zum Staat zu erläutern (ein böser Druckfehler machte in diesem Buch leider wiederholt aus Markgenossenschaft Aldr/ngenossenschaft)! Der Band klingt aus in einer Beschreibung des germanischen Königtums, auf dem hernach die abendländische Ordnung des Mittelalters fußt.

Der Verfasser hat sich mit stolzer Bescheidenheit und mit einer Art von Captatio malevolentiae von vornherein gegen Einzelvorwürfe geschützt. „Ich bin der erste“, so beendet er sein Vorwort, „der sich von allen Rissen, von allen Lücken meiner Gelehrsamkeit Rechenschaft ablegt. Doch ich werde mich nicht für erledigt, für verdammt halten, um einiger Irrtümer, um vieler Uebersehen willen. Hier geht es um ein anderes, das mein Titel ,Das Werden Europas' genugsam begreiflich macht.“ So wollen wir nur schnell anmerken, daß (S. 66 f.) die von Gonzague de Reynold seinerzeit im Buch über „Die russische Welt“ aus hergebrachten Darstellungen übernommene Ansicht vom Entstehen des Kiewer Staates durch die neuere, vornehmlich sowjetische Forschung überholt ist. Daß man nicht gut (S. 257) vom Fehlen einer großgrundherrlichen Aristokratie zwischen König und Gemeinfreien im Merowingerreich reden kann — die Amtswürdenträger gehören dort durchaus dem „götterentsproßten“ Adel an, dessen erstes Geschlecht eben die Königsdynastie ist. Die Nibelungen-Theorie des genialen belgischen Eigenbrötlers Henri Grc'goire hat die einmütige Ablehnung der berufensten Forscher ausgelöst (S. 368 ff.), was de Reynold ja erwähnt; sie verdient es nicht, allzu breit zitiert zu werden. Zuletzt — das alte, alte Klagelied, das die wenigen mit slawischen Dingen Vertrauten immer wieder bei der Begegnung auch mit den besten Werken westlicher Historiker, von vornherein vergebens, anstimmen müssen: Gonzague de Reynold geht natürlich an Grekov, Mavrodin, Udalcev und den Sowjetforschern wie *n den Polen Lebuda, Wojcie-chowski, Gieysztor. am Tscflechen Dvornik vorbei. *

Dixi et salvavi animm meam. Und der ruhmgekrönte Schweizer Historiker, der unvergleichliche Geschichts Schreiber wird auch nach diesen ehrerbietigen Beckmesserstichen das bleiben, als was ihn diese seine jüngste herrliche Leistung bestätigt: eine Zierde seiner Wissenschaft und der gültigste Vertreter seines Vaterlandes in der europäischen Geisteswelt. Univ.-Prof. Dr. Otto Forst de Battaglia

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