Die inzwischen 16-jährige schwedische Schülerin Greta Thunberg begann im August 2018 einen "Schulstreik". Sie setzte sich dazu alleine mit einem Schild mit der Aufschrift "Skolstrejk för klimatet" ("Schulstreik für das Klima") vor den Schwedischen Reichstag. Der Widerstand gegen ihre Aktion -von Seiten der Eltern und Lehrer - konnte nicht verhindern, dass Greta immer mehr Zuspruch erfuhr: Schüler in den benachbarten Ländern machten es ihr bald gleich, die Bewegung griff nach Frankreich, Belgien, Deutschland über. Immer mehr Schüler begannen, für das Klima zu streiken, allmählich auch in Österreich. Für den 15. März ist eine europaweite Aktion geplant. Der "Schulstreik" hat, so scheint es, das Potenzial für mehr als organisiertes Schulschwänzen. Liegt in ihm vielleicht der Keim für eine neue Jugendbewegung wie vor 50 Jahren?
Um mit dem offensichtlichen Gemeinsamen zu beginnen: Sowohl die erste in der Nachkriegszeit aufgewachsene Generation, die 1968 an die europäischen Universitäten strebte, als auch die Generation der heutigen Schüler, die noch vor ihrer Berufsentscheidung steht, sieht sich von einer rundum versagenden Politiker-und Elterngeneration verraten. War es 1968 deren nie aufgearbeitete Verstrickung in die Verbrechen des Krieges, ihr Schweigen zu Vietnam, so ist es heute schlicht ihr Versagen vor den Herausforderungen der Zukunft. Ein Versagen, das vor aller Augen geschieht. Und es gibt, damals wie heute, greifbare Alternativen. Sie werden nur nicht umgesetzt, wider besseres Wissen.
Ferne Übel
Damals wie heute konnte man den Protestierenden entgegenhalten, es gehe ihnen hier und heute ja eh gut und die angeblichen Übel seien -wenn sie denn überhaupt existierten -örtlich bzw. zeitlich weit weg. Es geht oder ging in beiden Fällen um nicht unmittelbar spürbare, sondern ferne Ereignisse: den Vietnamkrieg und die antizipierte Klimaerhitzung, die auf Emissionen des unsichtbaren, sinnlich nicht wahrnehmbaren Kohlendioxids in die Atemluft der Atmosphäre zurückzuführen ist. Die Aufforderung "Gehtʼs gescheiter was arbeiten bzw. in die Schule!", schwebt unausgesprochen im Raum.
Die Erzählungen von den fernen Welten sind aber dramatisch, und es erscheint den Proponenten unverständlich, warum sie ungehört bleiben. Heutige Schüler wie damalige Studenten erheben moralische Forderungen, und sie ermächtigen sich selbst zur Übertretung gesellschaftlicher Regeln. Aber das Übertreten von Regeln war 1968 nur der Anfang.
Das Verhältnis ist asymmetrisch: Schüler gehen nicht zum Unterricht. Die Gesellschaft antwortet: Das geht nicht, es gibt Regeln! Autokonzerne halten die Grenzwerte der Emissionen (=Regeln) nicht ein, die Staaten erreichen die Klimaschutzziele nicht. Die Antwort lautet: Da müssma schaun, vielleicht müssen die Regeln geändert werden! Kinder machen ihre Angst vor der Umweltzerstörung deutlich. Die Antwort lautet: Die haben doch alle keine Ahnung!
War es 1968 ein sozialphilosophischer Theorieapparat, der die Unruhe, den Aufruhr und später den Aufstand unterstützte und rechtfertigte, so beziehen sich die Akteure von heute vorab auf naturwissenschaftliche Fakten und ihre Interpretation. Gleichwohl finden sich damals wie heute politische Stimmen, die deren Relevanz leugnen. Denn es steht - das argwöhnen wohl viele -eine gut etablierte bequeme Lebenspraxis zur Disposition, mit jährlichen Urlaubsflügen nach Thailand oder Mallorca, übermotorisierten Geländewagen und ölbeheizten Einfamilienhäusern mit Doppelgarage. Der Aufruf zur Änderung richtet sich damals wie heute also auch gegen die bürgerliche Lebensweise; 1968 wurde sie direkt adressiert, heute merken die bürgerlichen Beobachter mit Unbehagen, dass sie wieder gemeint sind. Sie wollen aber nicht aus der Bequemlichkeit geworfen werden, nicht einmal kleine Änderungen sind gewollt.
Bekanntlich ging die 68er-Bewegung, soweit sie nicht versiegte, zwei Wege. Der eine, mühsame, aber wirksame, ging durch die Institutionen. Im Ergebnis war dieser Weg außerordentlich erfolgreich, er führte zu einer Fülle von gesellschaftlichen Änderungen. Der andere Weg führte eine kleine Gruppe in eine Radikalisierung, der sich die staatliche Ordnung nur mühsam, letztlich aber doch erfolgreich, erwehren konnte. Wenn eine Bedrohung total erscheint und die politisch Verantwortlichen darauf offenbar überhaupt nicht reagieren, wird gewissen Akteuren offenbar auch der gewaltvolle Widerstand gegen diese Bedrohung legitim.
Wie glaubwürdig darf eine Politik die Einhaltung von Regeln wie der Schulpflicht einfordern, die ständig dabei ertappt wird, ihre Ziele, die die Zukunft der Jugend vital betreffen werden, selbst nicht einzuhalten? Seit 30 Jahren werden die Forderungen von jährlich stattfindenden Klimakonferenzen ignoriert. Stattdessen wird das Tempolimit auf den Autobahnen erhöht und steuerbefreite Flugreisen in auch mit der Eisenbahn erreichbare Nachbarländer kosten weniger als ein Mittagessen. Angesichts solch falsch gestellter Signale sehen sich Menschen mit ihren Anliegen ignoriert und auch in ihrer bedrohten Identität nicht ernst genommen.
Der Protest von Greta und der Jugend zeigt, dass sie ihre Zukunft nicht mehr jenen überantworten wollen, denen sie seit Jahrzehnten offenbar gleichgültig ist. Was daraus wird, ist offen.
Seit 30 Jahren werden die Forderungen von jährlich stattfindenden Klimakonferenzen ignoriert. Stattdessen wird das Tempolimit auf den Autobahnen erhöht.
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