Dynamik aus Stillstand

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Das von uns gehegte Arbeitsbild sieht uns angestellt und sozial abgesichert. Doch Prekariat und Globalisierung haben dieses starre Bild längst widerlegt - höchste Zeit umzudenken.

Die Formen unserer Arbeit können recht starr sein. Obwohl nur mehr etwas über der Hälfte aller Arbeitnehmer in klassischer Fixanstellung mit tariflich festgelegter Gehaltsentwicklung, gesetzlich geregelten Arbeitszeiten und Arbeitsorten, mit Krankenstands-, Urlaubs-, Pensions- und sonstigen Versicherungsansprüchen arbeitet, ist die damit assoziierte Form des Normalarbeitsverhältnisses unverrückbar in unseren Köpfen verankert. Zuverlässig orientiert es die arbeitsbezogenen Aspekte unserer Lebensplanung. Und dies obwohl für einen schnell wachsenden Teil der Erwerbstätigen längst nur mehr jene prekarisierten Arbeitsformen offenstehen. Projekt- und Leiharbeit sind die Modalitäten der Stunde. Immer mehr Konzerne konzipieren ihren Arbeitskräftebedarf als "liquid employment“ oder "cloud working“, und rekrutieren ihre Belegschaft mittels "globalisierter Arbeitsverträge“, um sie nach Erbringung des Auftrags so schnell wie möglich wieder sich selbst zu überlassen.

Im Strom dieser Entwicklungen orientiert sich die Sozialpolitik beharrlich am Normalarbeitsverhältnis, welches, gestützt von den gut etablierten Vertretungsinstanzen der Fixangestellten und einer Sozialgesetzgebung, die selbst dieser Form entspringt, fest zu stehen scheint wie ein Fels in der Brandung. Diese Form verspricht Sicherheit, zumindest für jene, die sich ihrer noch erfreuen. Aber die Sicherheit: Die Normalarbeitsform in ihrem Stillstand trägt selbst zur Dynamisierung unserer Arbeit bei.

Eine sich selbst unterminierende Starre

Um diese seltsame, sich selbst unterminierende Dynamik ein wenig besser zu verstehen, hilft vielleicht ein kleiner Ausflug in die mathematische Welt der Rekursionen. Das sind, einfach gesagt, wiederholte Aktivitäten, die das, was sie hervorbringen, als Ausgangspunkt für den je nächsten Aktivitätsschritt verwenden. Die einfache Rechenanweisung "dividiere die Zahl x durch 2 und zähle 1 hinzu“, erzeugt beispielsweise aus der Zahl 4 die Zahl 3. Im zweiten Schritt, in dem nun die Zahl 3 als x genommen wird, ergibt sie die Zahl 2,5. Im dritten Schritt ergibt dieselbe Berechnung 2,125, im vierten 2,063 usw. Schon anhand dieser kleinen Ergebnisfolge lässt sich erkennen, dass die Ergebnisse die Zahl 2 anstreben. 2 fungiert als Attraktor. Der entscheidende Aspekt dabei ist der Umstand, dass dieser Attraktor von jeder erdenklichen Ausgangszahl aus angestrebt wird. Wir hätten diese Rekursion auch von -15 oder von 41.276 aus starten können. Sie hat eine eigene Logik, die sie ungeachtet ihres Ausgangspunktes unabdingbar die Zahl 2 anstreben lässt. Etwas verallgemeinert lässt sich davon sprechen, dass unsere Rechenanweisung in der Zahl 2 ihre "Eigenform“ hat. Und solche Eigenformen finden sich bei nahezu allen rekursiven Aktivitäten - auch bei der möglicherweise folgenreichsten, die wir bis heute kennen, der unserer Arbeit.

Auch unsere Arbeit verläuft rekursiv. Mit jeder noch so marginalen Arbeitsaktivität wird etwas erzeugt, das im nächsten Arbeitsschritt als Ausgangspunkt für neuerliche Arbeit bereitsteht. Die Arbeit etwa, die das erste Rad hervorgebracht hat, schuf eine beräderte Welt, in der in weiteren Arbeitsschritten der Handkarren, das Auto oder auch das Mountainbike hergestellt wurden. Die Herstellung des Autos brachte eine Welt hervor, in der an Treibstoffnachschub, an Verkehrsflächen, an der Festlegung von Straßenverkehrsordnungen und vielem mehr gearbeitet wird. All das hat als "Eigenform“ das Rad.

Eine der bekanntesten Eigenformen, die in neuerer Zeit in der Arbeit entstand, ist die des Industriearbeiters. Die aus diesem Idealtyp hervorgegangene Form der monetär entlohnten, vertraglich gebundenen, arbeitszeitlich geregelten und sozialversicherten Normalbeschäftigung kanalisiert die Bedingungen unserer Arbeit. Sie steht aber dabei in ihrer Eigenlogik immer öfter quer zum sonstigen Geschehen: Die Art und Weise etwa, wie unsere Bildung organisiert ist, wie die Entlohnung der Arbeit geschlechtlich verteilt ist, wie für soziale Sicherheit oder für Umverteilung gesorgt wird, richtet sich auch heute noch an der klassischen Form der Industriearbeit aus, obwohl diese Form für eine Vielzahl aktueller Arbeitsaufgaben schon lang nicht mehr passt.

Ihre Stabilität steht dabei der geforderten Anpassung entgegen. Unter rekursiven Bedingungen ist dies ein bekanntes Problem, das sich paradoxerweise gerade dem Stabilisieren von Formen verdankt. Auch in unserer persönlichen Entwicklung zum Beispiel etablieren wir Verhaltens- und Umgangsformen, die sich im Rahmen unserer Erfahrungen als günstig erweisen und die wir deshalb unseren Kindern weitergeben wollen. Allerdings verändert sich die Welt, in der unsere Kinder leben. Für sie wäre es problematisch, unsere Muster eins zu eins für ihr aktuelles Umfeld zu übernehmen. Jugendlicher Ungehorsam sorgt deshalb verlässlich dafür, dass tradierte Verhaltensformen an neue Umstände angepasst werden.

In ähnlicher Weise etabliert auch unsere Arbeit ihre Eigenform, der sie ein Stück weit folgt und sie damit bestärkt und stabilisiert, um aber gerade dadurch Aktivitäten auf den Plan zu rufen, die in diese Form nicht mehr passen. Der Ethnologe Stanley Udi beschrieb diesbezüglich eine Jagdgesellschaft, die, um ihre wichtigste Arbeit, das Jagen von Wildtieren, produktiv zu verrichten, spezielle Rituale entwickelte, mit denen sie sich vor der Jagd in entsprechend Adrenalin-geschwängerte Stimmung versetzte, und nach der Jagd auch wieder so weit beruhigte, dass das soziale Gefüge des Stammes nicht gefährdet wurde. Diese Rituale rahmten die Jagd ein und festigten ihre Eigenform, da sie ja auch zum Erfolg und Wohlstand der Gesellschaft beitrug. Gleichzeitig aber wurde die regelmäßige Pflege des Rituals zu einer anderen Form von Arbeit. Denn wenn die Jagdgesellschaft dafür zum Beispiel spezielles Personal, einen Zeremonienmeister etwa, abstellte, so entsprach dessen Arbeit nicht mehr der Eigenform der Jagd. Die Arbeit des Zeremonienmeisters begann aber ihrerseits die Form spiritueller und im Weiteren geistiger, also nicht mehr manueller Aktivitäten, zu etablieren.

Der gesprengte Rahmen der Arbeits-Konvention

Analog dazu lässt sich die Vielzahl der Tätigkeiten, die die Entwicklung der Industriearbeitsform nach sich gezogen hat - gedacht sei nur etwa an die vielfältigen Bedürfnisse für Organisation und Management, für Buchhaltung, für Bildung, für Infrastruktur, für Jurisdiktion, für Finanzwesen, für soziale Sicherheit und vieles mehr - als Folge einerseits der Aktivitäten im Rahmen der Industriearbeit ansehen. Andererseits passt ein Großteil der in diesen Bereichen anfallenden Tätigkeiten nicht mehr in diesen Rahmen. Die genannten Aktivitäten haben ihrerseits längst ihre Eigenform, ihre eigene Gesetzlichkeit, entwickelt, mit der sie zur Logik der Industriearbeitsform querstehen und in der sie ihrerseits Aktivitätsformen notwendig machen, die den Rahmen dieser Formen sprengen. Ein großer Teil aktueller, als post-industriell bezeichneter Aktivitäten - denken wir nur an Weiterbildung, intellektuelle Produktion und ihre eigentumsförmige Zurechnung, bis hin zu Erziehungs- und Pflegearbeit - fügt sich nicht in den Rahmen des klassischen Beschäftigungsverhältnisses. Sie passen nicht zu dieser Form, bescheren ihr aber ein hochdynamisches Umfeld, in dem ihre Beharrlichkeit problematisch wird.

Dem Stillstand, für den ihre Eigenlogik sorgt, fehlt aber nun der Aspekt des jugendlichen Ungehorsams, der in der Lage wäre, unserer Arbeit im Fluss der Globalisierung eine Form zu geben, die den Gegebenheiten angepasst und für die Erwerbstätigen tragbar ist. Damit sind wir am Kern unseres Stillstandsproblems.

* Der Autor ist Professor für Systemwissenschaften an der Uni Graz.

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