Everything now!

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Wie lebt man in einer Welt, in der immer alles öffentlich ist? Damit setzen sich die diesjährigen salzburger Hochschulwochen auseinander.

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Wie lebt man in einer Welt, in der immer alles öffentlich ist? Damit setzen sich die diesjährigen salzburger Hochschulwochen auseinander.

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Wenn die kanadische Indie-Rockband Arcade Fire ein Album veröffentlicht, sind in der Regel nicht nur Musikredaktionen, sondern auch Feuilletons hellwach: Von der Gruppe rund um Win Butler und Régine Chassagne erhofft man sich nicht nur einen popkulturell informierten Blick in die Sounds der Zukunft, sondern auch Einsichten in die komplexen Gegenwarten, in denen wir leben: ein Stück Zeitdiagnose. Für das neueste Album der Band, das Ende Juli erschien (und in allen großen Medien besprochen wurde, q.e.d.), wies bereits die namensgebende Vorabsingle die Richtung: In "Everything now" besingen Arcade Fire die digitale Benommenheit von Existenzen, denen im Internet zu aller Zeit alles offensteht.

Ein Alles, das nicht nur von uns konsumiert wird, sondern uns zugleich in Beschlag nimmt und betäubt: Every song that I've ever heard / is playing at the same time, it's absurd. / And it reminds me, we've got everything now.

Dialektische Twists der Moderne

Das ist ironisch genug, hinreichend tanzbar und überhaupt zu charmant in Abbaähnliche Klänge verpackt, um als erhobener Zeigefinger wahrgenommen zu werden - höchstens als jener John Travoltas in der berühmten Tanzpose in "Saturday Night Fever". Aber auch damit deutet die zeitdiagnostische Forschungsabteilung von Arcade Fire auf eine gesellschaftliche Großwetterlage, die als Verarbeitungsimperativ am Individuum abregnet: Was heißt es und wie bewältigt man es, in einer Welt des Everything now und des Always on zu leben, in der zumindest perspektivisch ständig alles öffentlich ist? Und umgekehrt verdächtig wird, was dies nicht ist -auch die eigene Existenz?

Was sich an dieser Frage nachzeichnen lässt, ist einer der vielen dialektischen Twists der Moderne, die wache Geister in allen Verästelungen unserer Lebenswelt wahrnehmen. Die Moderne führt Öffentlichkeit als emanzipatorisches Motiv ein: Der Zugang zu allen Informationen, die Kenntnis aller Argumente und der öffentliche Austausch darüber ist ein Herzstück der Aufklärung. Es ist widerständig gegen einen Absolutismus gesetzt, der in Hinterzimmern bestimmen will, was Sache und was Recht ist. Mehr noch: Sich in allem, was man tut, dem Blick anderer ausgesetzt zu denken, das heißt,Öffentlichkeit in jeder seiner Entscheidungen mitzusetzen, ist ein kritisches Regulativ.

Es ersetzt gewissermaßen das allsehende Auge Gottes. In diesem Sinn formuliert Kant in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" die "transzendentale Formel des öffentlichen Rechts":"Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht." Das ist philosophisch wohlbegründet, aber psychologisch anspruchsvoll.

Das Dauercasting des Internets

Es wird dies umso mehr, wo die Idee ihre rechtsphilosophischen Grenzen verlässt und mutiert: Auch die Ersetzung des Herkunfts-durch das Leistungsprinzip, die das Bürgertum dem Adel abringt, forciert das Prinzip der Transparenz. Konkurrenz funktioniert nur bei Vergleichbarkeit, Wettbewerb braucht Öffentlichkeit. In der Welt, die Arcade Fire besingen, ist die Maxime der Publicität über viele Zwischenstufen hindurch total geworden. Das gesamte eigene Leben findet sich unter die Frage öffentlicher Zustimmungsfähigkeit gestellt -oder um es mit Facebook zu sagen: unters Regiment der Like-ability allen Seins und Tuns. Für viele ist das real existierende Internet ein Dauercasting, in dem es zu bestehen gilt.

God, make me famous ist so der sprechende Refrain von "Creature Comfort", eines anderen Songs auf dem neuen Album. Als transzendentale Formel aller Online-Existenz gilt: Abendessen, Körper oder Urlaube, die nicht fotografier-und in sozialen Medien herzeigbar sind, sind nicht gut genug. Und weil manches selbst die beste Foto-App nicht kaschieren kann, boomt die Selbstoptimierung - wer digital glänzen will, muss immer auch analog leiden.

Das ist eine Möglichkeit, die Frage zu beantworten, was es heißt, sein Leben in einer Welt des Everything now zu führen; sie fokussiert die Logiken des Everything und erhellt den Kampf um Anerkennung in digitalen Räumen. Das Now erschließt einen anderen Aspekt. Es macht das Zeitproblem zum Thema, das in der Digitalisierung steckt: Denn es ist nicht bloß alles öffentlich verfügbar -sondern es ist dies zudem nicht in der analog behäbigen Form eines allmählich entwickelten Narrativs oder Arguments, sondern augenblicklich. Robert Musil räsoniert noch, dass die meisten Menschen "im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler" seien: Sie "lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen und fühlen sich durch den Eindruck, dass ihr Leben einen 'Lauf' habe, irgendwie im Chaos geborgen."

Facebook-oder Instagram-Streams hingegen lassen sich so nur bedingt beschreiben: Sie sind weniger Filme als Trailer. Ein Highlight folgt dem nächsten, verbunden durch Hashtags, aber damit ist eine Geschichte weniger erzählt als angedeutet. Umgekehrt: Wer könnte auch 30 biografisch detaillierte Episoden seiner Mitmenschen kognitiv und emotional einordnen und verarbeiten? Soziale Medien wissen sehr gut diese Verarbeitungszumutung und bieten Hilfe: Sie filtern algorithmisch vor und liefern voreingestellte Reaktionsmöglichkeiten.

Urmeter der Kultur: Abstand zu sich selbst

Sie sind jeweils weniger dafür gedacht, Informationen zu würdigen, als vielmehr ein Instrument für uns, ihre schiere Masse zu bewältigen -anders wäre die Gleichzeitigkeit der Datenmenge nicht zu verarbeiten, gerade wenn man always on ist. Vielleicht rührt man hier an ein zentrales Problem insbesondere sozialer Medien der Gegenwart: Es ist allzu oft die erste Regung, die darin die Regie führt, nicht der zweite Gedanke. Wenn sich der deutsche TV-Satiriker Jan Böhmermann auf Facebook über Besoffene lustig macht, zielt er gerade auf dieses Regime der Postingund Klickreflexe und die Unkultur, die sich damit digital etabliert. Das Urmeter der Kultur aber ist der Abstand zu sich selbst. Es ist die Fähigkeit, seiner ersten Intuition nicht blind folgen zu müssen, sondern sich reflexiv dazu verhalten zu können -insbesondere im Licht einer anderen Perspektive. Um keine Illusion aufkommen zu lassen: Bereits analog tun wir uns schwer genug damit, unsere Interaktionen nach diesem Maß zu gestalten. Und doch scheint es im Netz mitunter nochmals schwieriger: Ein Hassposting ist unendlich viel leichter getippt als eine Beleidigung von Angesicht zu Angesicht ausgesprochen.

Vielleicht gewinnt in diesem Kontext eine Einsicht politischer Theologie neue Relevanz, gerade im vermeintlich Privaten. Johann Baptist Metz hat als kürzeste Definition von Religion folgende genannt: Unterbrechung. Im Kontext der bisherigen Überlegungen ist dies eine Relativierung von Like-Zahlen, ein Schritt aus dem Dauercasting, ein Bruch mit dem Always on. Dabei ist Unterbrechung kein moralisches Werten oder griesgrämiges Abschwören, sondern bloß der Versuch, Abstand zu gewinnen und darin neu zur Besinnung zu kommen. Das ist seit jeher eine Aufgabe für Glaube und Vernunft, sie ist es auch in digitalen Sphären. Aber natürlich ist es auch in der Disco möglich, Arcade Fire wissen das. Denn darin gilt schließlich: Dance like nobody's watching.

Der Autor ist Fundamentaltheologe an der Universität Salzburg und Leiter der Salzburger Hochschulwochen

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