Religiöse Traumzeiten

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Über die neue Konjunktur der Religionskritik nach dem Ablauf ihrer Verfallsfristen.

Oft frage ich mich, ob eine Welt vorstellbar ist, die intellektuell reich und emotional befriedigend ist - und die ohne jede Religion auskommt. Es wäre eine Welt voller Demut vor der Heiligkeit des Lebens, der Natur und der Kunst, nur eben ohne den Respekt vor einem übernatürlichen Leben. Der Schriftsteller Ian McEwan legte vor einiger Zeit in einem Interview mit der Zeit diesen alten Traum neu auf: den einer Welt ohne Religion. Zu McEwans Imagine findet man die passende Unterstimme in einem Lied von John Lennon: Imagine there're no countries. It isn't hard to do. Nothing to kill or die for. And no religion too.

Seit Lennon seinen Traum geträumt hat, hat sich die Welt verändert. In der Zwischenzeit bewegt sie sich eher nach der Führung anderer Melodien. Sie erinnern heute vor allem an religiös aufgespielte Kriegsweisen. Und in der Zwischenzeit lebt auch John Lennon nicht mehr. Träume haben ihren Preis. Man bezahlt sie mit der Wirklichkeit. Für den Born-Again-Christen Mark Chapman, der Lennon am 8. Dezember 1980 vor seiner New Yorker Wohnung erschoss, spielten Glaubensgründe eine entscheidende Rolle. Wir haben uns an ähnliche Taten gewöhnt: an das tödliche Bekenntnis eines fanatischen Einzelgängers wie an die religiös unterlegten oder auch nur übertünchten Konflikte, aus denen wir nicht herausfinden.

Apokalyptischer Terror

Damit zeichnet sich aber eine Konstellation mit symbolischem Nennwert ab. Die religionspolitischen Schockwellen, die zuerst die iranische Revolution von 1978 auslösten, überspülen das globalisierte 21. Jahrhundert mit der apokalyptischen Wucht ihrer Terrorismen. Der Ort, an dem sie mit beinahe mythischer Gewalt am 11. September 2001 niederschlugen, ist gerade jenes New York, das sich mit einem anderen Vorbeben verbindet. Die religiöse Gewalt, die im Dezember 1980 aus dem zivilisatorischen Untergrund der freien Welt mit ihren Zwangsneurosen ausbrach, zerstörte mit John Lennon auch seinen Traum von einer Welt ohne Religionen. Ihre Exzesse halten unsere kollektiven Alpträume seitdem in wachsendem Maße besetzt.

Nachdem die religiösen Utopien doch längst ins Land gestaltloser Traumzeiten verschifft schienen, erleben sie eine anhaltende Hausse auf den globalen Umschlagplätzen der Politik. Womit sie handeln, ist das Leben, das sie versprechen, indem sie es nehmen. Umso intensiver träumt Ian McEwan seinen Traum einer religionsfreien Welt. Und er hat gute Gründe. Das Erwachen in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts, das für seine vorläufige Geschichtsschreibung mit dem religionspolitischen Fanal des 11. September 2001 begonnen hat, befeuert sie.

Dabei hatte man sich daran gewöhnt, mit den Religionen auch ihre Kritik als überlebt anzusehen. Ihre klassischen Konjunkturzeiten reichen ins 19. Jahrhundert zurück. Was intellektuell erledigt schien, zog indes genau daraus seinen religiösen Nutzen. Der Glaube lebte als ausdifferenzierter Rest weiter, gerade weil die moderne Rationalität keinen Ort für das vorsah, was sich nicht abfinden lässt: für die Fragen nach einer letzten Bedeutung unseres Lebens.

Im Rückblick des 20. Jahrhunderts handelte sich der Projektionsvorwurf seine historische Bestätigung ein, denn die Religionsproduktivität der Moderne vollzog sich im Maße der technischen Beschleunigung, die sie kennzeichnet. Für alle ersichtlich, vollzog sich eine Wiederkehr der Götter (Friedrich Wilhelm Graf), die aus unterschiedlichstem Bodensatz stammen. Man findet sie eher nach Bedürfnissen sortiert denn auf rationale Geltungsansprüche geeicht.

Dennoch zeigt sich gerade in seinen unterkomplexen Gestalten, dass Religiosität eine eigene Form von Rationalität darstellt. Noch der Fundamentalismus besitzt seine Logik und erweist sich nicht zuletzt technisch-strategisch höchst intelligent. Und dass Christentum und Islam als besonders verdächtige Kandidaten durchaus auch Aufklärungsarbeit über die eigenen Gewaltversuchungen geleistet haben, bestätigt einen grundsätzlicheren Befund: Religionen präparieren eigene Wissensformen. Sie artikulieren Erfahrungen und beantworten Fragen; sie orientieren kognitiv und stellen ethische Ansprüche. Kurz gesagt: Religionen haben kritisches Potenzial. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Religionen es mit der unverrechenbaren Widerständigkeit der Wirklichkeit aufnehmen, indem sie Deutungsangebote machen. Von daher fordern sie einen erneuerten Einspruch heraus.

Finale der Gewalt

Für McEwan entzündet er sich an den desaströsen Folgen der religiösen Zeloten, die auch durch seine Romane geistern. In Liebeswahn (1997) verfolgt ein fanatischer Christ das Objekt seiner Begierden. Sein Traum von wahrer Liebe führt in ein Finale der Gewalt. In seinem letzten Roman Saturday (2005) legt McEwan ihre Nervenenden offen: Es sind die unscheinbaren Synapsen, die neuronalen Aufladungen, die wenig mystischen chemischen Kombinationen, die unsere religiösen Vorstellungen generieren.

Gott als bloße Hirnfunktion - das ist die neurowissenschaftliche Fassung jener anderen Reduktion, die das Religiöse als Vorteil im evolutionsbiologischen Kampf um die besten Überlebenschancen zureichend beschrieben glaubt. Die Karte des szientifischen Naturalismus, die Richard Dawkins jüngst noch einmal prominent ausspielte, will mit einem funktionalen Argument stechen. In der Beschreibung von Funktionen, die Religionen zweifellos übernehmen, soll sich die Frage nach ihrem Wirklichkeitsbezug erschöpfen. Freilich trumpft man mit diesem Blatt um einen argumentativ entscheidenden Moment zu früh. Wenn sich religiöse Erfahrung als Attraktion einer bestimmten Hirnregion abbilden lässt, steht man vor einem neuronalen Phänomen - nicht vor Gott.

Ian McEwans Religionskritik erscheint vor diesem Hintergrund charakteristisch, denn sie bedient sich in den breit gefächerten Auslagen neuer Religionskritiken. Seine Überlegungen haben Gewicht: Wer auf ein Leben nach dem Tod setzt, droht das jetzige zu verspielen; für unsere Moral müssen wir rational verantwortet selbst aufkommen; vor allem: Religionen verwickeln immer wieder neu in abstruse Vorstellungswelten und lassen sie in sehr realer Gewalt aufgehen.

Von der Monotheismuskritik eines Jan Assmann im Allgemeinen bis zu den christentumskritischen Anfragen Herbert Schnädelbachs im Besonderen kennt man das kritische Programm McEwans auch in deutscher Übersetzung. Ihre Analysen wollen die destruktiven Folgen des Glaubens an den einen Gott im Namen der Wahrheit aufdecken und zugleich die kulturell verheerenden Konsequenzen zumal christlicher Glaubensüberzeugungen bestimmen.

Kritik an dem einen Gott

Auf dieser Linie ließe sich aus einer christlichen Position zur Geltung bringen, dass die Reich-Gottes-Botschaft der Evangelien nicht als lebensflüchtiges Hinterweltlertum (Friedrich Nietzsche) gedacht ist; dass die Gewaltszenarien der Bibel ihre Relativierung und Kritik gerade im Namen Gottes einschließen; dass ein Interesse am Leben für alle besondere Gerechtigkeitsoptionen gerade biblisch verbürgt; dass die Rede von Gott als Geheimnis der Welt (Eberhard Jüngel) eine eigene theologische Perspektive auf die philosophisch gestellte Theodizeefrage erlaubt; dass der Glaube im Modus einer Hoffnung für jeden Menschen antritt und daher die Welt aus dem zynischen Status quo ihrer anhaltenden Ungerechtigkeit und sich schier perpetuierenden Leids reißt; dass diese Hoffnung niemanden verloren gibt und den Glauben damit auf eine besondere Weise ethisch auflädt.

Im theoretischen Patt der Argumente läuft alles auf eine - begründungsfähige, wenn auch nicht letztbegründbare - Entscheidung für eine fundamentale Perspektive auf die Wirklichkeit hinaus. In diesem Zusammenhang nehmen die neuen Religionskritiken auch nach dem vermeintlichen Ablauf ihrer klassischen Verfallsfristen eine theologisch unverzichtbare Bedeutung an. Denn nur in ihrem Widerspruch entgeht man der Versuchung, sich in religiöse Traumwelten zu versteigen. Wer als Christ glauben will, muss sich demgegenüber an der Geschichte abarbeiten, in der sich, folgt man den Evangelien, das Leben im Licht Gottes zeigt, weil Gott eine menschliche Geschichte hat. Theologisch forcierter ausgedrückt: im Menschen Jesus von Nazareth begegnet das Original Gottes als sein Interpret.

Und so hängt alle Plausibilität des christlichen Glaubens am Leben eines Juden an der Zeitenwende; am singulären Ereignis einer Biografie, die im Tod Hoffnung auf Leben setzt. Aus der Sicht der Evangelisten handelt es sich um mehr als ein bloßes Imagine, nämlich um den notwendigen Grund einer Hoffnung, die am Respekt vor dem Leben haftet.

Der Autor leitet das Zentrum "Theologie interkulturell und

Studium der Religionen"

an der Universität Salzburg.

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