Neuer Streit um das Kruzifix

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Es mag in der Natur des Menschen und in den Umständen unseres Lebens liegen, dem Grundsätzlichen, dem Beklemmenden, dem uns zu Ernsthaftigkeit mahnenden eher aus dem Weg zu gehen. So auch dem Kruzifix im öffentlichen Raum. Ein Blick auf ein Kreuz, insbesondere jener auf ein Kruzifix, reißt uns aus Achtlosigkeit. Die Strahlkraft bricht den Alltag, unterbricht aber nur scheinbar das tägliche Leben, denn, ganz im Gegenteil, der Anblick des Todes stellt uns noch stärker in das Leben, weil er es bewusster macht. Am Kruzifix findet sich der Mensch am Schnittpunkt einer die Welt umspannenden Horizontalen und einer Himmel und Erde verbindenden Vertikalen. All das haben die sieben Richter, die am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einstimmig gegen Kruzifixe in Italiens Klassenzimmern votierten, nicht erwogen. Sie hatten, man möge ihnen das als Juristen zubilligen, einmal mehr – und charakteristisch für ihre Profession – eine Regel in sich so gedreht und gewendet, dass ihre Entscheidung dem juristischen Verstande entspricht, aber weniger dem allgemeinen. Dumm, wie der gesamte Plot nun einmal angelegt ist, wird sich bald jemand finden, der ihn genau dafür gebraucht, was wir am wenigsten wünschen, nämlich einen Kulturkampf.

Die Freiheit, nicht religiös zu sein

„Wie hältst du es mit der Religion?“, ist ja jene Frage, der vor allem jene ausweichen, die um eine Antwort mehr als verlegen sind. Vor allem, weil die Frage nach der Religiosität jene nach dem gelebten Glauben ist. Glaube ohne Praxis wäre ja lediglich Philosophie oder unverbindlich bleibende Gedankenspielerei. Da man sich der mit Glauben und Religiosität verbundenen Verbindlichkeit zu entziehen sucht, erfährt die großartige Errungenschaft der Religionsfreiheit durch Juristen ihre neue Interpretation: Als Freiheit, nicht religiös zu sein. Als Recht, nicht zu bekennen. Als Entbindung von Bekenntnis. Und dann, nächster Schritt, als Recht darauf, Religiosität aus dem Weg zu gehen. Was – im Finale – bedeutet, dass die religiösen Symbole aus dem öffentlichen Raum zu verschwinden hätten, denn dem laizistisch Gesinnten sei eben weder deren Anblick noch ein Umweg, um das Unaussprechliche zu vermeiden, zumutbar. Solcherart verdünnt sich in Europa mehr als nur Christentum und Katholizismus.

Perspektive über das Leben hinaus

Die Meinungsfreiheit, ebenfalls eine Errungenschaft, schließt in sich die Freiheit ein, keine Meinung haben zu müssen oder, sollte ein vorliegen, diese für sich behalten zu können. Man möge diese Varianten in der Ausübung eines Grundrechtes auch der Religionsfreiheit zugestehen. Und dann die notwendigen Unterscheidungen treffen.

Religion und Glaube konfrontieren uns mit der Frage nach unserem Welt- und Menschenbild. Nach den Hoffnungen, zu denen Menschen in ihrer Bedrängnis flüchten. Nach den über das Leben hinausreichenden Perspektiven, die sich zwar zwangsläufig einer Überprüfung entziehen, aber trotzdem im Inneren des Menschen ihre Kraft entfalten. Niemand ist in diesem Leben ohne Sehnsucht, und das verlangt nach Auflösung, führt zu Transzendenz. Das drückt sich für viele in Religiosität und in Glauben aus, was sie festigt. Es ist der Himmel, der erdet.

Das alles und mehr lässt sich mit dem Kruzifix verbinden. Und es wiegt vielfach schwerer als ein etwas trotzig wirkender Laizismus, der wünscht, diesen Grundtatsachen der conditio humana aus dem Weg gehen zu dürfen, was erlaubt bleiben muss. Es erinnert aber an jene historischen Bauregeln, denen zufolge Gebetshäuser keine der Straße zugewandten Fenster haben durften, um nicht Vorbeigehende mit einem religiösen Bekenntnis zu konfrontierten, welches sie nicht teilen und von dem sie nicht behelligt werden wollten.

Man kann diese Debatte entlang der Trennung von Staat und Kirche und der historischen Bedeutung des Christentums führen. Aber sie ist immer wieder zu führen. Nicht zuletzt deswegen gehören Kruzifixe in den öffentlichen Raum.

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