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Grenzen der Vereinsfreiheit

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Der amerikanische Politologe Seymour Martin Lipset hebt in seiner „Soziologie der Demokratie” die Bedeutung des Vereinswesens für die Demokratie hervor und weist darauf hin, daß diejenigen Menschen, die zu Vereinen gehören, weit häufiger die demokratische Antwort auf Fragen nach politischer Toleranz geben, daß sie eher geneigt sind, in Wahlen ihre Stimme abzugeben und auch aktiv am politischen Leben teilzunehmen. Die Demokratie lebt von Vereinen und Organisationen. Denn sie sind die Quellen, die die im steten Fluß befindliche Willensbildung der Gemeinschaft speisen. Die Vereins- und Versammlungsfreiheit steht daher in demokratischen Staaten unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Allerdings schützt sich auch der Staat gegen Vereine und Versammlungen, die ihn gefährden. Die Abwägung zwischen Individual- und Staatsinteresse obliegt einem besonderen Organ, in Österreich dem V erfassungsgerichtshof.

In Österreich haben die Staatsbürger gemäß Artikel 12 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. Nummer 142/1867, und insbesondere gemäß dem Beschluß der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918, StGBl. Nummer 3, das Recht, sich zu versammeln und Vereine zu bilden. (Artikel 11 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten hat das Vereinsund Versammlungsrecht zu einem Menschenrecht erweitert.) Die Ausübung dieser Rechte wird durch besondere Gesetze geregelt. Diese besonderen Gesetze sind das Vereinsgesetz 1951 und das Versammlungsgesetz 1953. Damit wurde die durch die Verfassung garantierte Vereinsund Versammlungsfreiheit durch einfache Gesetze relativiert und mediatisiert. Nach der Rechtssprechung des Verfassungsgerichtshofes stellt jede Verletzung dieser Gesetze einen unmittelbaren Eingriff in die Verein?- und (a qr) Versammlungsfreiheit dar. Der Verfassüngs- gerichtshof ist als Hüter der Verfassung der ausschließliche Hüter dieser Grundrechte. Der Verwaltungsgerichtshof hat in Angelegenheiten der Vereins- und Versammlungsfreiheit, und zwar auch dann, wenn nur eine Verletzung von Verfahrensvorschriften vorliegt, keine Zuständigkeit

Verfassungsgerichtshof als Richtschnur

Damit ist die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes Richtschnur einerseits für das Verhalten der Vereine und ihrer Mitglieder und anderseits für das Verhalten der Verwaltungsorgane und ihrer Träger.

In der letzten Zeit erweckte das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Oktober 1963, B 275/62, das im Frühjahr 1964 ausgefertigt wurde, das Interesse der Öffentlichkeit. In diesem Erkenntnis wies der Verfassungsgerichtshof eine Beschwerde des Vereins „Kameradschaft vom Edelweiß, Tirol” gegen einen Bescheid des Bundesministers für Inneres, rhit dem eine Versammlung („Kameradentreffen”) untersagt worden war, ab. Nach einer minutiösen Sachverhaltsanalyse kam der Verfassungsgerichtshof zu dem Ergebnis, daß der Zweck dieses Kameradentreffens die Pflege der Tradition der Wehrmacht des Deutschen Reiches war und daß eine solche Traditionspflege die öffentliche Sicherheit und das öffentliche Wohl im Sinne des Paragraph 6 des Versammlungsgesetzes 1953 gefährden würde, weshalb der Innenminister die Versammlung zu Recht untersagt habe.

Dieses Erkenntnis ist rechtlich nichts Neues. Der Verfassungsgerichtshof hat nur seine Rechtsprechung konsequent fortgesetzt. Schon im Erkenntnis B 167/62 vom 6. Dezember 1962 hatte der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, daß die Pflege der Tradition der Wehrmacht des Deutschen Reiches im Hinblick auf die Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs vom 27. April 1945, StGBl. Nummer 1, rechtswidrig und staatsgefährlich ist.

In diesem Beschwerdefall war die Beschwerde des Proponenten des Vereines „Bund der Ritterkreuzträger des Eisernen Kreuzes in Österreich”, dessen Bildung der Innenminister untersagt hatte, abgewiesen worden, weil der Verein nach seinen Statuten auch die Pflege der Tradition der Wehrmacht des Deutschen Reiches bezweckte.

„Militärische Besetzung”

Das Bemerkenswerte an beiden Erkenntnissen ist aber, daß der Verfassungsgerichtshof als wesentliches Element seiner Entscheidungsgründe die Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs vom 27. April 1945, StGBl. Nummer 1, herangezogen hat. Sie fungiert als Bewertungsmaßstab und Deutungsschema. In beiden Erkenntnissen hat der Verfassungsgerichtshof nahezu wörtlich übereinstimmend festgestellt:

„Der sogenannte Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich ist im Jahre 1938 gemäß der Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs vom 27. April 1945, StGBl. Nummer 1, durch .militärische kriegsmäßige Besetzung’ aufgezwungen worden. Die Besetzung Österreichs war, dies ergibt sich aus der Proklamation, rechtswidrig. In der Proklamation heißt es auch, die .nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers’ habe kraft dieses Anschlusses das .Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt, … den kein Österreicher jemals gewollt hat, jemals vorauszusehen oder gutzuheißen imstande gewesen war’. Die Wehrmacht war ein Instrument des Deutschen Reiches unter der nationalsozialistischen Regierung Adolf Hitlers.”

Im Hinblick darauf bewertet der Verfassungsgerichtshof die Pflege der Tradition der ehemaligen Deutschen Wehrmacht als rechtswidrig und staatsgefährlich und ist der Meinung, daß eine solche Traditionspflege die öffentliche Sicherheit und das öffentliche Wohl gefährden würde.

Der erste staatliche Akt

Maßstab für diese Wertung ist also die zitierte Proklamation. Sie war der erste staatliche Akt des nach Fortfall der Occupatio quasi bellica durch Hitler-Deutschland wieder aktionsfähigen Österreichs. (Dabei agierten die Vorstände der politischen Parteien Österreichs als Träger des Staates und aktualisierten die potentiell schon gegebene Handlungsfähigkeit Österreichs.) Der Verfassungsgerichtshof hat diesem Akt die Funktion eines Deutungsschemas für menschliches Verhalten zugesprochen und so seine Bedeutung als Norm in seiner Judikatur anerkannt.

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