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Dampf ablassen vor dem Fernsehschirm

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Von der Alpinen Ski-WM 1997 im italienischen Sestriere berichtet der ORF dieser Tage mit einem technischen und personellen Aufwand, den es bisher noch nie gegeben hat: ein eigener Übertragungs wagen und ein Bus für den Film-Schnitt vor Ort sowie eine Satelliten-leitung ins ORF-Zentrum sollen dem Zuschauer das totale Live-Erlebnis bieten.

Mit Hilfe von hochmodernen Anlagen haben die TV-Konsumenten trotz der großen räumlichen Entfernung das Gefühl, hautnah dabei zu sein. Spannende Bilder von der Piste wechseln mit interessanten Hinter-grundstories.

Warum bescheren solche Spektakel den TV-Stationen rekordbrechende Einschaltquoten? Warum sitzen Menschen stundenlang vor dem Fernseher, leiden und jubeln mit „ihrem Sportler", mit „ihrem Idol"?

Psychologen sagen meist dazu: nicht nur das eigene Schwitzen, auch das Miterleben der Anstrengungen anderer dient als Ausgleich zum Alltag. Viele Bedürfnisse, die heutzutage schon als unzeitgemäß abgestempelt1 worden sind, können in der Zuschauerrolle wieder ausgelebt werden.

In der modernen Gesellschaft machen sich Gemeinschaftsverlust und der Zwang zur Selbstkontrolle massiv bemerkbar. Das Gefühl von Sicherheit, entstanden durch ein routiniertes, durchorganisiertes Leben, erzeugt bei vielen Menschen allmählich das Gefühl der Langeweile und Leere. „Der Sport ist ein zentraler Ort gesellschaftlicher Gefühlshygiene", meint dazu Karl-Heinrich Bette, Professor für Sportwissenschaft an der Universität Heidelberg. Gemeinsam mit Uwe Schimank vom Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung beschreibt er in der Zeitschrift „Psychologie heute" verschiedene Motive des Sportzuschauers. „Personen mit wenig Selbstsicherheit entdecken unter den Sportlern attraktive Modelle, die ihnen helfen, zu ihrem eigenen Ich zu finden."

Günter Amesberger, Psychologe am Wiener Institut für Sportwissenschaften, sieht die Hauptgründe für das gewaltige Interesse im Bereich der Steigerung des Selbstwertgefühls. Das typische „Wir haben gewonnen!" kennzeichnet dieses Empfinden. So konnten, sagt Amesberger im Gespräch mit der FURCHE, bei diesem Zuschauertyp auch stärkere körperliche Reaktionen festgestellt werden. Der Gewinn des Sportlers ist sein Gewinn, dasselbe gilt auch für den Verlust. Doch schlechte Leistungen der eigenen Favoriten führen nicht zur Verzweiflung. Sie haben auch Vorteile. Wo ist es denn im Alltag noch erlaubt, sich einmal kräftig und lautstark zu ärgern? Im täglichen Leben gibt es selten Gelegenheit, einmal richtig Dampf abzulassen. Auf den Zuschauertribünen beim Fußballplatz oder daheim vor dem Fernseher ist jedoch so manches Schimpfwort -auch in der Gruppe - genehmigt.

Und das ist schon der nächste Punkt: die Gemeinschaft. Sie wird nicht nur in den zahllosen Fanclubs erlebt, die ihren Lieblingen transparenteschwenkend immer treu zur Seite stehen. Auch der Zuschauer alleine vor dem Bildschirm kann sich sicher sein, daß er mit vielen anderen gemeinsam leidet oder jubelt.

Der Konsum von TV-Sport bringt noch weitere Vorteile: über das Wetter zu reden, signalisiert inzwischen eher Oberflächlichkeit. Sport hingegen bietet in sozialer, sachlicher und zeitlicher Hinsicht unendliche Diskussionsmöglichkeiten. Da werden am nächsten lag mit den Bürokollegen Ergebnisse analysiert, Prognosen erstellt und Empfehlungen zur Leistungsverbesserungen abgegeben. Es treten zwar Meinungsverschiedenheiten auf, doch die sind nicht wirklich ernst zu nehmen. Je öfter man schaut, desto schneller entwickelt man sich zum „Kenner" und kann auf die „Sport-Laien" ein bißchen herabschauen.

Neben all diesen gesellschaftlichen Bedürfnissen darf jedoch eine ganz individuelle Lust nicht vergessen werden. „Spannung, bei der für die Zuschauer persönlich nichts auf dem Spiel steht, erleben sie als angenehmes Prickeln", meinen Bette und Schimank.

„Wer kann in der Fülle von Reizen, die wir heutzutage erleben, noch einen ,Kick' drauflegen?" Diese Frage

sei entscheidend für die Begeisterung der Zuschauer, so Sportwissenschaftler Amesberger. Bisiko sei ein Motiv, das den Zuschauer bannt. „Den Veranstaltern der Schirennen in Kitzbühel ist es gelungen, eine Kombination zwischen dem Gemeinschaftser lebnis mit höchster Prominenz und einem gewissen Bisiko zu schaffen. Als Grundkonzept gilt dabei das offene Ende, wie bei einem guten Krimi. Das fasziniert die Zuschauer." Und so genießen auch dieser Tage Millionen Österreicher die Ski-Weltmeisterschaft und sorgen gleichzeitig für gute Geschäfte bei Sportlern, Sponsoren und Veranstaltern.

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