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Feier-Tag oder freier Tag?

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Der erste Tag des Monats Mai zeigt uns als „Tag der Arbeiter“ in seinem offenkundigen Bedeutungswandel gleichsam symbolisch die Wandlung der „Sozialen Frage“, die heute keineswegs mehr mit der alten „Arbeiterfrage“ gleichgesetzt werden kann. Will man sich die allgemein merkbare Entwicklung in der Sozialreform geradlinig fortgesetzt denken, kann man sich wohl das Heraufkommen einer Welt ohne Armut vorstellen. Die Unterschiede in Einkommen und verfügbaren Güterfonds werden wohl bleiben, aber die Menschheit als Ganzes wird aus der Bedrängniszone ausgesiedelt sein. Das Armsein kann einmal — so unwahrscheinlich uns das zu sein scheint — eine außerordentliche Erscheinung oder nur noch vom Medizinischen her zu begründen sein. Im Jahre 1956 betrug das durchschnittliche Sozialprodukt je Kopf der westeuropäischen Bevölkerung bereits 660 Dollar (in den USA 1300) und wird weitersteigen, wenn man davon ausgeht, daß sich das Sozialprodukt, wie bisher, im Jahr um vier bis ■ fünf Prozent erhöht.

Es mag sein, daß dann, wenn wir eine Welt ohne Armut haben, der 1. Mai nur noch den Charakter eines Votivtages haben wird, ein Tag der Erinnerung.

Vorläufig aber ist die Not noch kein Vergangenes. Auch nicht in Oesterreich. Wohl lesen wir zuweilen von Zeugnissen — wenn nicht Demonstrationen—eines Lebensstandards, die uns an die Entartungen im Konsum antiker Prasser erinnern, so wenn wir hören, daß die Angehörigen einer in der Bundesrepublik stationierten Besatzungsgruppe beim Erntedankfest 1957 nicht weniger als 99 Tonnen Truthähne verspeisten, 18 Tonnen Krabben und unter anderem noch 55 Tonnen Süßigkeiten. Oder: Allein in Karlsruhe werden im Monat 20 Zentner Brot in den Mülleimer geworfen.

Auf der anderen Seite aber hungert die Mehrheit der Erdbevölkerung und wissen Millionen nicht, wie das ist: einmal satt sein dürfen. Bei einem großen Teil der lebenden Menschheit ist der Hunger d a s lebens- und denkenbestimmende Gefühl. Wenn wir aber davon ausgehen, daß die Not in dem Sinn, wie wir sie bisher definiert haben, einmal nicht mehr vorhanden sein sollte, wird es doch Not stets als ein Relatives geben. Das Bibelwort, daß immer Arme unter uns sein werden, wird auch nach sozialen Begriffen seine Gültigkeit behalten. Trotz Sozialreform und Sozialbürokratie.-

Die Not der verlassen.en Alten wird bleiben, ja mit dem Wachsen der durchschnittlichen Lebenserwartung und der sachlich unvermeidbaren Verbürokratisierung der Sozialeinrichtungen noch größer werden, weil man wohl Brot und Schlafstellen, nicht aber Liebe und Geborgenheit „von Amts wegen“ geben kann.

Ebenso wird die Not der Einsamen aller Einkommens- und Altersstufen keine Minderung erfahren, auch nicht die Not der vielen Kinder, deren Eltern für sie, weil sie in der Freizeitwelt engagiert sind, keine Zeit haben.

Die Not der Kinderreichen der unteren Einkommenskategorien wird nicht erheblich kleiner werden, sondern durch die provo-kative Verhöhnung derer verstärkt, welche die Steuergesetze und die Preispolitik machen.

Wir sind auch dlzu leicht bereit, die Not jener sozialen Gruppen zu vergessen, die man bisher in die Maßnahmen der Sozialreform nur am Rand einbezogen hat. Ich meine die kleinen Gewerbetreibenden und die Kleinstbauerh, um deren Kümmerbetriebe man sich bisher auch in den dazu berufenen Vertretungskörperschaften allzuwenig gekümmert, hat. Dazu kommt, daß es auch bei totaler Versicherung vielen nicht gelingt, den Beweis ihres Anspruches auf soziale Versorgung trotz Ausfüllung vielspaltiger Formulare zu erbringen.

Daher muß uns das, was der 1. Mai bisher versinnbildlichen sollte, erhalten bleiben: der Wille zur Sozialreform. Und ebenso dürfen wir nicht jene Institutionen aufgeben, denen es die Menschheit in weiten Teilen der Erde zu danken hat, daß die Not nur noch eine ausnahmsweise Erscheinung ist:

Die christliche Caritas vor allem, die da sein muß, weil die behördliche und halbbehördliche Sozialpflege (die wir unter keinen Umständen missen wollen!) in gewisse tote Winkel unseres gesellschaftlichen Lebens einfach nicht hineinwirken kann, ist sie doch nur auf typische Fälle hin organisiert. Die außerordentliche Not, nur in den kleinen Gemeinschaften erkennbar, kann cft nicht erfaßt werden. Es gibt eben Risiken, gegen die es keine Versicherung gibt.

Es müssen die Gewerkschaften bleiben, die — von Christen oft unbedankt — ein gutes Stück Weg mit den christlichen Sozialreformern gegangen sind. Mit diesem „Ja“ zu den Gewerkschaften ist nicht eine Zustimmung zu der in manchen Ländern sichtbaren Ver-parteipolitisierung der Gewerkschaften verbunden. Das „Ja“ gilt den Gewerkschaften, soweit sie die Sozialreform mitgetragen haben.

Es müssen die kühnen sozialrefor-matorisehen Bestrebungen unter den Unternehmern bleiben, jene neuartigen Engagements von Unternehmern, als deren Folge das böse Wort von dn „Soziallasten“ durch die offenkundige Einsicht in die soziale Verpflichtung der jeweiligen „Betriebsführung'“ ersetzt wurde.

Und es müssen schließlich die von allen Teilinteressen freien Experimente der christlichen Sozialreformer fortgesetzt, wenn nicht verstärkt werden; freilich unter steter Bedachtnahme auf die sich wandelnden Erscheinungsformen, insbesondere der Not.

Sicher ist der. 1. Mai der Bevölkerung in den großen Städten heute ein Tag, an dem die Räder „still“stehen. Die Wiener Straßenbahner haben bis jetzt den Satz vom „Stillstehen“ der Räder sogar wörtlich genommen. Und damit der Sozialistischen Partei einen schlechten Dienst erwiesen. Nicht wenige aber werden heuer wieder bei der großen „Show“ im Wiener Stadion sein und sich zum Fest als Entproletäri-sierte mit ihrem eigenen Auto „begeben“ können.

Das Demonstrative und Kämpferische aber ist am l. Mai verschwunden. Hoffentlich endgültig. Wo es noch geblieben ist, stellt es eine Summe liebenswürdiger und als solche verstandener Gesten dar. Aber trotzdem dürfen wir den 1. Mai nicht als einen Tag wie jeden anderen betrachten, einen Tag, an dem wir uns, weil wir nicht „rot“ sind, demonstrativ ausschlafen, um zu beweisen, wie wenig wir mit dem ganzen „Getue“ zu tun haben. Wenn schon der 1. Mai kein Tag der Erinnerung bleiben soll (unser Gedächtnis hält allmählich die vielen Er-innerungstage nicht mehr aus), Mahnung soll der erste Tag des Monats Mai uns bleiben: Nicht abzulassen von den Bemühungen, die Gesellschaft neuzuordnen. Und die Barbarei zu bekämpfen, wo immer sie sich im Raum der Gesellschaft zeigt. Wir konnten erfahren, daß auch die Beseitigung der „Ursünde“ des Privateigentums und der alten Hierarchien die Despotien nicht zum Verschwinden gebracht haben.

Die Sozialreform, als Wille wie als Bemühung, ist daher dauernde Verpflichtung. Denn: die Bedrohung bleibt, die Ausbeuter und die Despoten sind unter uns. Und in uns.

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