Fenster aufmachen, wo keine sind

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Seit 2007 leitet die erfolgreiche Schriftstellerin Renate Welsh ehrenamtlich Schreibwerkstätten im Obdachlosenheim VinziRast. Im Gespräch erzählt die Autorin, wie wichtig Schreiben sein kann und wie aus den dort entstandenen Texten ein schönes Buch wurde.

Renate Welsh, die am 22. Dezember ihren 76. Geburtstag feiert, schreibt seit 1969 Kinder- und Jugendbücher, seit 1988 auch für Erwachsene. Sie wurde für ihre Bücher vielfach ausgezeichnet. Seit vielen Jahren leitet sie Schreibwerkstätten mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Eine davon findet im VinziRast-CortiHaus statt, wo obdachlosen Menschen "ein Zuhause, Geborgenheit und Wärme“ angeboten wird.

DIE FURCHE: Wie kamen Sie auf die Idee, in der VinziRast eine Schreibwerkstatt anzubieten?

Renate Welsh: Cecily Corti hat mich angerufen und gefragt, ob ich bereit wäre, eine Schreibwerkstatt in der VinziRast zu leiten - nein, zuerst hat sie mich gefragt, ob wir uns treffen könnten. Ich habe über die VinziRast nur sehr vage gewusst - eine Notschlafstelle. Aber das war kein Thema, mit dem ich mich befasst hatte. Jedenfalls rief sie mich an und hat mich gefragt, wie ich das mache. Sie hat mich auf Herz und Nieren geprüft und dann hat sie gesagt, sie könne sich gut vorstellen, dass ich so etwas in der VinziRast mache. Und zahlen könne sie natürlich nichts, weil sie nur mit Ehrenamtlichen arbeitet. Mir hat das so gut gefallen, die Tatsache, dass sie nicht so wie andere Leute fragte, hast du Zeit und bist du mit dem Honorar einverstanden, sondern dass sie so genau wissen wollte, wie ich es mache und warum ich das so und nicht anders mache. Das war für mich symptomatisch für die Achtung und den Respekt, den sie den Menschen, mit denen sie zu tun hat, entgegenbringt. Dass sie ihnen nicht jemanden bloß vorsetzt, weil er oder sie halt einen Namen hat, sondern dass sie ganz genau wissen wollte, was da passiert.

DIE FURCHE: Es ging ihr vor allem um den Umgang mit den Menschen ...

Welsh: Ja, und was tue ich und wie tue ich’s und was sind meine Gründe und meine Methoden. Das hat mir so gut gefallen, dass ich sofort gesagt habe: Das machen wir.

DIE FURCHE: Sie hatten ja schon viel Erfahrung mit Schreibwerkstätten ...

Welsh: Ich habe Methoden entwickelt im Lauf von vielen Jahren. Meine ersten langen Schreibwerkstätten waren mit behinderten Menschen, mit Eltern behinderter Kinder, mit jugendlichen Behinderten, mit Geschwistern behinderter Kinder. Dann ziemlich bald mit Kindern überhaupt. Ich hab mit Krankenschwestern, mit Lehrerinnen und Lehrern, mit Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, ich habe also im Grunde mit allen Arten von Menschen gearbeitet und die merkwürdige Erfahrung gemacht, dass du mit genau denselben Methoden mit achtjährigen Kindern in gemischten Gruppen, wie sie eben in Schulklassen vorkommen, mit Menschen mit gemeinsamem Leidensdruck, mit Hochgebildeten, mit sehr schwach begabten Menschen und mit Menschen, die kaum Deutsch können, arbeiten kannst. Die Methode bleibt gleich, jedenfalls in den Anfangsstadien. Was dann daraus wird, hängt von der Gruppe ab.

DIE FURCHE: Und nach welchem Prinzip arbeiten Sie?

Welsh: Das Prinzip ist eigentlich nur, dass am Anfang ein einzelnes Wort ein vollgültiger Beitrag ist. Das entwickelt sich vom Wort zum Satz zum Text, in einem mehr oder weniger rhythmischen Wechsel zwischen Einzelarbeit, Kleingruppenarbeit und Großgruppenarbeit. Das Wichtigste in einer Schreibwerkstatt ist das Zuhören. Eine Schreibwerkstatt ist eigentlich eine Zuhörwerkstatt ebensosehr wie eine Schreibwerkstatt. Ganz wichtig ist mir, dass jede und jeder einzelne zumindest einmal im Laufe dieses Nachmittags sich selbst im Mittelpunkt der konzentrierten Aufmerksamkeit der ganzen Gruppe erlebt. Und für die Dauer der Arbeit miteinander ist für mich nichts auf der Welt so wichtig wie diese Gruppe. Das ist es.

DIE FURCHE: Mit dieser Einwortmethode nehmen Sie von Anfang an die Scheu vor dem großen Text. Ich nehme an, die meisten Teilnehmer von Schreibwerkstätten sind nicht gewohnt, Texte zu schreiben, außer vielleicht Lehrer, und haben deshalb wohl auch Angst ...

Welsh: Die erst recht! Die einen haben Angst, weil sie es nicht gewohnt sind, die anderen haben Angst vor den eigenen Ansprüchen. Die einen haben zu viele Klischees im Kopf, die anderen zu viele Misserfolgserlebnisse - da kann ich jetzt viele Dinge aufzählen, die alle sehr große Schwierigkeiten bereiten. Es hat alles mit Vertrauen zu tun, mit dem Wissen, dass innerhalb der Werkstatt alles, was kommt, dankbar angenommen wird. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.

DIE FURCHE: Hier werden keine Beurteilungen ausgesprochen …

Welsh: Nein, nein, nein, das ist ganz wichtig!

DIE FURCHE: Aber wir lernen Schreiben doch so: Wir schreiben - und es wird korrigiert. Es ist also wichtig, diese Erfahrung gleich einmal wegzuräumen?

Welsh: Ja, auch die Angst davor, dass ich Fehler mache. Sicher machen wir Fehler. Wer keine Fehler machen will, darf in der Früh nicht aufstehen. Der soll am besten liegenbleiben und schlafen - und das ist dann auch wieder ein Fehler.

DIE FURCHE: Was sind Ihre berührendsten Erfahrungen in der Schreibwerkstatt mit den Teilnehmern aus der VinziRast?

Welsh: Die finden Sie in dem Buch "Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen“ immer wieder. Für mich ist dieser Satz "Du machst Fenster auf, wo gar keine sind“, den Haynalka aufgeschrieben hat, eine so unglaubliche Bestätigung, dass da tatsächlich etwas in Gang kommt, das sonst nicht möglich wäre. Dieses Sehendürfen, dass Menschen, die ganz sicher sind, dass kein Hahn danach kräht, was sie zu sagen haben, merken, das, was sie zu sagen haben, ist kostbar. Und ich finde, die Texte brauchen kein apologetisches "Na schau, was die können!“ - sondern die Texte stehen für sich, jedenfalls sehr viele davon. Das sind Erfahrungen, die sehr kostbar sind.

DIE FURCHE: Haben Sie den Eindruck, dass aufgrund der Erfahrungen und Schritte, die in der Schreibwerkstatt gemacht werden, dann auch andere konkrete Schritte möglich werden?

Welsh: Das glaube ich schon. Aber selbst wenn diesem Schritt kein anderer folgt, ist die Tatsache, dass dieser Schritt gegangen wurde, ein so unglaubliches Wunder. Ich glaube, man darf nicht unbescheiden sein, wenn Wunder geschehen, sondern man muss Wunder dankbar annehmen. Man darf nicht erwarten, dass auf jedes Wunder eine Kettenreaktion von anderen Wundern folgt.

Wenn etwa Norbert geschrieben hat, "Es ist nicht leicht, immer der zu sein, der etwas bekommen muss“, dann hat er damit ja eine unglaublich wichtige Feststellung gemacht, was Depraviertheit bedeutet. Depraviertheit heißt ja nicht nur arm sein, sondern nicht imstande zu sein, jemanden etwas geben zu können, das ist ja viel schlimmer als nichts zu haben. Da zu erleben, ich kann etwas geben: Damit wird etwas möglich. Und was dann möglich wird und in welcher Form das möglich wird, das kann ich nicht mehr steuern. Ich kann ganz winzige Dinge machen. Mehr kann ich nicht.

DIE FURCHE: Nun sind einige Texte aus der Schreibwerkstatt Buch geworden, und man kann darin manche Erfahrungen teilen, man sieht die konkreten Gesichter. Es ist so gestaltet, dass die kurzen Texte stark wirken können: Man schlägt auf und bleibt hängen und ein Fenster tut sich auf: War das die Intention?

Welsh: Das war durchaus die Intention. Dass das Buch so schön geworden ist, wie es geworden ist, das hat natürlich auch mit der optimalen Zusammenarbeit zu tun. Als ich Inge Cevela erzählt habe von meinen Schreibwerkstätten, hat sie gesagt, das wäre doch ein Buch, das würde sie gerne im Dom-Verlag herausbringen. Dann haben wir darüber geredet, dass es Fotos haben müsste, und ich habe Aleksandra Pawloff gefragt, die auch in der VinziRast mitarbeitet, die also die Leute kennt und kein Störfaktor ist. Und dann gab es eben die Fotos, die ich genial finde. Aber es gab Widerstände, weil es natürlich aufwendig ist, das Buch zu machen, und weil das nicht die primäre Aufgabe des Dom-Verlags sei, wie einige Leute dort fanden. Inge hat sich unglaublich dafür eingesetzt. Und die Zusammenarbeit mit ihr und der Lektorin war wirklich beglückend. Dann kam noch dazu, dass auch die Grafikerin das Buch zu ihrer Sache gemacht hat. Alle, die daran gearbeitet haben, haben es zu ihrer Sache gemacht. Ich habe das Gefühl, da steckt - das klingt ein bisschen übertrieben, wenn man das sagt und mit großen Worten tue ich mich schwer - aber da steckt wirklich unglaublich viel Liebe und Herzblut dahinter. Und bis jetzt haben alle Menschen, denen ich das Buch gezeigt habe, gesagt: Ja, das sieht man eigentlich in dem Moment, in dem man das Buch in die Hand nimmt. Das ist nicht etwas, wo man sagt: Das ist ja nett. So etwas wollten wir nicht. Wir wollten, wenn wir es machen, es richtig schön machen.

DIE FURCHE: Sie haben angedeutet, einige Leute hätten gemeint, das Buch würde nicht zum Dom-Verlag passen - da stellt sich mir aber die Frage, wenn es einen Verlag gibt, der der Kirche gehört, wäre doch gerade so ein Projekt genau das richtige?

Welsh: Ja, aber die hatten gesagt, das soll die Caritas machen. Ja, da steckt natürlich viel Agape drinnen, da steckt ganz viel Liebe drinnen. Aber das ist kein karitatives Projekt, sondern das ist ein Projekt, das aus der Achtung vor Menschen entstanden ist. Das ist so etwas wie ein Dom für Achtung vor Menschen. Es hat etwas mit Menschenbildern zu tun und mit dem Bild vom Menschen und dem Goldfaden, der im Menschen drinnen ist.

DIE FURCHE: Nun hört man, dass vom Eigentümer des Dom-Verlages, der Erzdiözese Wien, nicht mehr gewünscht ist, dass das Verlagsprogramm, das vor allem mit wunderschönen Bilderbüchern aufgefallen ist, so weitergeführt wird, genauer: Gerade die preisgekrönten Kinderbücher will man nicht mehr ...

Welsh: Wenn das abgekappt und abgeschnitten wird in einer Verlagslandschaft, die sowieso immer enger wird - es ist so sünd’ und schad’! Die ganze Verlagslandschaft in Österreich wird immer enger, es gibt immer weniger, das wirklich auf Qualität aufbauen darf. Diese perverse Vorstellung, jedes Buch muss sich einzeln rechnen, ist für mich das Ende der Literatur, die sich Literatur nennen darf. Natürlich wollen wir alle, dass sich ein Verlag insgesamt rechnet, das ist klar. Aber wenn ich einen Bestseller habe, dann hat der Bestseller die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, andere Dinge, an die ich glaube, mitzutragen. Es gibt ja so etwas wie ein christliches Prinzip wie: Einer trage des anderen Last - das gilt auch für Bücher.

Natürlich muss man nicht jeden Mist mittragen, das verlangt ja keiner. Aber das, was wert ist zu entstehen und geschützt und behütet zu werden, das muss doch beschützt und behütet werden, wenn das Dinge sind, die anderswo vielleicht nicht entstehen hätten können.

Bücher wie - um nur zwei Lieblinge von mir zu nennen - "Wie war das am Anfang?“ von Heinz Janisch, das ein selten schönes Buch ist, inklusive der herrlichen Illustrationen von Linda Wolfsgruber, und das neue von Sarah Michaela Orlovsk´y, "Tomaten mögen keinen Regen“ - das sind Bücher, wo einem Menschen, der Menschen und Bücher liebt, das Herz im Leib lacht, wenn er so etwas in die Hand kriegt. Das sind Bücher, die aus dieser speziellen Konstellation von engagierten, gescheiten und handwerklich versierten Frauen entstanden sind. Und so etwas nicht weiterarbeiten zu lassen ...

DIE FURCHE: Die Kirche quält sich doch mit der Frage, wie komme ich an die Menschen heran, wie kann ich meine Botschaft heute vermitteln, und da hat sie nun preisgekrönte Bilderbücher und will sie nicht?

Welsh: Ja, und wir wissen alle: Anfangen musst du da, wo die Pflanzerln noch biegsam sind. Es tut einem das Herz weh.

DIE FURCHE: Was wünschen Sie diesen engagierten Frauen vom Verlag und den schönen Bilderbüchern?

Welsh: Dass sie weitermachen können. Und das wünsche ich nicht ihnen primär, sondern das wünsche ich denen, die diese Bücher brauchen. Weil Bücher Lebensmittel sind.

Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen

Texte aus der Schreibwerkstatt im VinziRast-CortiHaus. Hg. von Renate Welsh. Fotos von Aleksandra Pawloff. Wiener Dom-Verlag 2013.157 S., kart., e 19,00 Mit dem Kauf des Buches wird das VinziRast-CortiHaus unterstützt.

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