Gegen die Wurschtigkeit

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Für einen 15-Jährigen gestaltet sich das Leben offen, und alle Erfahrungen wirken besonders wuchtig. Die Erinnerung vergrößert das Erlebte noch einmal. Vor allem das erst im Ansatz Erfahrene, all das Gewünschte, Erhoffte, das weitgehend offen Gebliebene, was einem das Leben noch nicht zugestanden hat, wird ins Unermessliche gesteigert. Ein kleines, unerfahrenes Wesen im Taumel des unmittelbaren Erlebens, das macht die Jugend zu etwas Besonderem. Dieses von Gefahren, Anfechtungen und Verheißungen umstellte Terrain, im Abstand von drei Jahrzehnten betrachtet, erweist sich als das Unfassbare, zumal damals nahezu alles möglich war, aber kaum etwas erreicht wurde. Die Unfertigkeit macht den Reiz aus und diese enorme Begeisterung, die allen Bemühungen erst recht eine mächtige Schubkraft verpasst. Eine Freiheit, die sich einer einfach nimmt, vollkommen unvernünftig und in der Konsequenz dennoch logisch, in dieser Form nie mehr zu haben, öffnet sich dem Jugendlichen, der meint, dass ihm die Welt offen stünde und diese sich gefälligst danach zu verhalten habe. Der Jugendliche befindet sich zweifellos im Zeitalter des Idealismus und kollidiert mit dem harten Realitätsprinzip. Das kann nicht gut gehen.

Erlebnis-Furor

Navid Kermani leistet etwas vollkommen Unzeitgemäßes. Er stellt uns einen Jugendlichen vor, der er womöglich selber einmal war. Daraus gestaltet er einen Erlebnis-Furor. Das Ich des Romans setzt sich nie dem Vorwurf aus, es sich auf fremde Kosten gut gehen zu lassen, alle Vorteile einer Wohlstandsgesellschaft in Anspruch zu nehmen, selbst aber nur Gift zu versprühen. Natürlich rebelliert dieses Ich gegen die Erwachsenen, fällt sogar mehr aus der Rolle als seine Alterskollegen in der biederen Kleinstadt in den achtziger Jahren. Doch immer ist er getrieben von einer inneren Kraft, die für etwas rundum Positives, Lebenszugewandtes, die Zukunft Anpeilendes steht. Dieser Jugendliche ist nie destruktiv oder selbstzerstörerisch, brav wirkt er dennoch in keinem Augenblick. Er kennt nur den absoluten Willen, der Unbedingtheit des Lebens nicht auszuweichen. Er kennt keine Halbheiten, keine Kompromisse, er fordert das Höchste und ist bereit, dafür alles zu geben. Nie lässt er sich hängen, in ihm arbeitet ein Kämpferherz.

Um diesem Menschen gerecht zu werden, bedient sich Kermani dreier Zugänge, die die Persönlichkeit außer Rand und Band zu verstehen helfen. Der Bursche verliebt sich Hals über Kopf in eine Maturantin. Natürlich ist der Fünfzehnjährige dafür viel zu jung. Ein Altersunterschied von vier Jahren bedeutet in diesem Alter eine ganze Welt. Um der "Schönsten des Schulhofs“ nahe zu sein, stellt er sich Tag für Tag mit den Großen ins Rauchereck auf die Gefahr hin, von den Lehrern erwischt zu werden. Hartnäckig und unbekümmert schafft er es, ihre Aufmerksamkeit, dann Zuwendung, schließlich Liebe zu gewinnen. Die beiden werden ein Paar, nicht länger als für einige wenige Tage, aber die sind prägend für den Rest des Lebens. So geliebt hat er, der mittlerweile auf eine zerstörte Ehe zurückblicken kann, nie. Das Ideal der frühen Jahre bleibt auf ewig unerreichbar. Schön, wie Kermani Szenen der Nähe und Leidenschaft in Worte fasst. Selten schafft es in der Gegenwartsliteratur einer, sich vom Zauber des Glücks derart heftig anrühren zu lassen.

Die angebetete Frau

Diese Liebe braucht einen festen Grund, und den ergeben die Deutschland so aufwühlenden Jahre, in denen Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss den Bürger mündig werden lassen. Der Jugendliche engagiert sich aus Liebe, macht mit, um der angebeteten Frau nahe zu sein. Nach und nach bekommt man den Eindruck von einer Zeit "strickender Männer und ebenso unförmig gekleideter Frauen“. Schrecklich sanfte Typen bevölkern das Land, darüber lässt sich gut spotten. Der wehmütige Erzähler aber zieht diese Vergangenheit dem Heute vor, "weil sie eines nicht war, nämlich cool und ironisch.“ Den Menschen ging es um etwas, sie standen auf verlorenem Posten und erlitten Schiffbruch. Diesen Umständen spricht der Erzähler auch die Zuneigung der Geliebten zum Fünfzehnjährigen zu. Der Entscheidung, "den Kerlen einen Hüpfer vorzuziehen, in der Naivität die Arglosigkeit wertzuschätzen und gerade in der Unsicherheit eine Stärke zu sehen“, entspringt einem Emanzipationsgedanken aus dem Geist der Bewegung.

Die angebetete Frau. Der Bergriff ist nicht zufällig gewählt. Tatsächlich nimmt der Autor die Liebe nicht nur ernst, sondern als ein den ganzen Menschen umwälzendes seelisches Ereignis. Es gibt einen Menschen vor der Liebe und einen danach. Nach dieser Begegnung, wie kurz und unerfüllt diese auch immer gewesen sein mag, ist er ein anderer.

Liebe als spirituelle Erfahrung

Kermani rückt das Liebeserlebnis in die Nähe einer religiösen, spirituellen Erfahrung. Er bringt das, was dem Burschen widerfährt, ein rückhaltloses Außer-sich-Sein, die absolute Hingabe, in Verbindung mit dem, was die mystischen Denker aus dem "Land seiner Lieblingslektüren“ - aus Persien, dem Herkunftsland der Eltern - niedergeschrieben haben. Die unglückliche Liebe wird aufgewertet, indem religiöse Durchdrungenheit ins Spiel gebracht wird, "um eine ganz weltliche Liebe zu verstehen“.

Der Roman ist eine herausragende Neuerscheinung des Frühjahrs und eines der schönsten Bücher über Selbstvergessenheit durch Liebe überhaupt. So könnte ein Lebensbuch ausschauen.

Große Liebe

Von Navid Kermani, Hanser 2014.

224 Seiten, gebunden, e 19,50

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