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Das versehrte Brauchtum

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Von den Erinnerungen an meine Kindheit, die ich im ehemals kaiserlichen Ischl verbrachte, ist wohl keine so sehr von seligem Schaudern durchzittert als das Erlebnis eines Glöcklerabends. In späteren Jahren wurde ich in die glückliche Lage versetzt, mich von Berufs wegen mit den Fragen des Volkslebens befassen zu können. Aber soviel ich auf diesem weiten Feld wahrnehmen konnte, meine Liebe blieb — wie sollte es auch anders sein — dem Kindheitserlebnis zugetan, und mit Sorgfalt beobachtete ich den Weg und die Entwicklung des heimatlichen Brauchs.

In keinem Jahr, die Kriegszeit ausgenommen, versäumte ich, das Glöcklerlaufen selbst „mitzumadien“, wie der Oesterreicher sagt, wenn er sich innerlich an etwas beteiligt fühlt. Ich registrierte audr, nicht nur von Amts wegen, die zahllosen Notizen, Artikel, Aufsätze, Betrachtungen und Hinweise, die sich jährlich zum Anlaß des Glöck- lerlaufens wiederholen. Ein Vergleich mit den sonstigen großen österreichischen „Brauchtumsveranstaltungen“, um gleich im Jargon dieser Presse zu sprechen, etwa dem Imster Schemen- oder dem Telfser Schleicher- lofen, dem Gasteiner und Pongauer Perchtentreiben, dem Lungauer Samson oder dem Ausseer Flinserlfasching, gleichgültig, zeigt auf den ersten Blick, daß es sich dabei um dieselbe Erscheinung handelt. So möge auch das Beispiel nur dazu dienen, die allgemeine Situation dieses Brauchtums zu beleuchten.

Dies ist die eine Seite: Aus der alten kultisch-religiös gebundenen Ueberlieferung ist eine Schaustellung, eine reflektierte Brauchtumsvorführung geworden. Nur wenige Passen des Trauntales zwischen Ebensee und Ischl haben sich gegenüber solchem Managertum mehr oder weniger immun und unversehrt erhalten.

Doch hat die Scheidemünze des in Umlauf gehaltenen Brauchtums gewiß auch noch eine Kehrseite. Es sei nicht übersehen, daß das Glöcklerlaufen, seit 1930 etwa, nach zwölf Orten eines Gebietes, das von Vorchdorf bei Gmunden bis Salzburg und Stainach im Ennstal reicht, neu verpflanzt wurde. Träger dieser Verbreitung sind, von einem einzigen Fall (Vorchdorf) abgesehen, die Trachtenvereine. Es fragt sich allerdings, ob man hier von einer Ausbreitung des überlieferten Glöcklerbrauches sprechen kann oder ob es sich nicht vielmehr nur um die Uebernahme einer rein visuellen, lohnenden Darbietung handelt. Diese Frage wird eindeutig nicht zu lösen sein. Auch die Tatsache, daß sich die Ausführung der Glöcklerkappen gegenüber den Jahren zwischen den Weltkriegen sehr verbessert hat, sei nicht übersehen. Die profan-naturalistischen Gebilde wie Bierkrügel, Schwammerl, Schwein usw. sind nahezu völlig verschwunden und haben wieder sehr kunstvollen, in mühsamer Handarbeit hergestellten Sternen und Sturmhauben Platz gemacht, deren Flächen allerdings jetzt meist in reflektierender Weise das Brauchtum selbst darstellen. So schildern die kunsthandwerklich sehr beachtlichen Kappen der Kohlstätter Glöckler das „Ebenseer Brauchtumsjahf“ als Brauch um des Brauches willen. Man sah 1954 .aber außerdem sehr schöne, rein ornamental durchleuchtete Glöcklerhauben wie z. B. von einer Paß, die von der Katholischen Jugendbewegung gestellt wurde.

Damit ist erwiesen, daß es gegenwärtig vielfach die organisierten Gemeinschaften der Vereine, Parteien und Bewegungen sind, die sich „in den Dienst des Brauchtums stellen“. Hier scheint wirklich ein neuer Ansatz verborgen zu sein: im Wetteifer der örtlichen Gemeinschaften das Brauchtum, dessen Ausübung als Verpflichtung angesehen wird, aufrechtzuerhalten. Das Brauchtum, wenn auch in abgeblaßter und gewandelter Bedeutung, verbindet so die Menschen aller Lager, wobei im besonderen

Fall des Glöcklerlaufens die Tatsache Beachtung verdient, daß es sich keineswegs um eine bäuerliche, sondern um eine fast durchweg von Arbeitern überlieferte Gepflogenheit handelt.

Wo steht das Brauchtum heute, wenn das geschilderte nur ein Symptom ist, worin hat es sich verändert, was ist sein neues Gesicht?

Der Sinnentleerung des alten Brauches, die bis zur empfundenen Sinnlosigkeit getrieben wird, steht ein äußerlicher Aufschwung gegenüber. Der Verlust an innerem Gehalt scheint durch materiellen Aufwand wettgemacht werden zu wollen.

Was hier also zu tun sei? Am liebsten möchte man mit Weinhebers Kulturrezept antworten: „Gar nix, in Ruah lassen.“ Dieses Rezept hätte viel für sich, wenn es wirklich eingehalten würde. Aber da sind nun einmal die weitertreibenden Faktoren, der Rundfunk, die Wochenschau, der Fremdenverkehr, lokaler Ehrgeiz und der „Fortschritt“ als „Drang zur Perfektion“. Wenn diesen „Fortschrittsmächten“ allein das Feld überlassen bliebe, würden heute noch bezahlte „Schaulaufen“, abgelöst von jedem örtlichen Zusammenhang, in Berlin, Wien, Linz und sonstwo veranstaltet werden, und dem Asphalt würden Presse und Wochenschau fruchtbarkeitsfolgernde Berührung zusprechen.

Es würde die Phantasie der Kappenher- stcller Blüten treiben und der Glöcklerlauf längst, auch äußerlich, zu einem ulkigen Narrentreiben geworden sein. So aber wurde doch, dank eines bewußt konservativen Gegengewichtes, das äußere Bild im Hinblick auf die überlieferten Formen nach einem unzweifelhaften Abstieg sogar wieder verbessert. Die organische Verbreitung in einer geschlossenen Landschaft vbm Trauntal aus ist ebenfalls brauchtumsverpflichteten Gemeinschaften zuzuschreiben.

Alles zwar nur ein Beweis dafür, daß so oder so „gemacht“, „gemanaged“ und eingegriffen würde, daß es aber nicht ganz gleichgültig sein kann, wer eingreift und in welcher Weise, zu welchem Ziele Veränderungen vorgenommen werden. Eine Besinnung auf das ursprüngliche Wesen des Brauchtums dürfte auf alle Fälle geboten sein.

Das Schauspielhafte, das heute allein dem Brauchtum verblieben zu sein scheint, war von jeher, wenn auch nur e i n Element des alten Brauchtums. Nicht das unwesentlichste! Daneben spielt, durchaus verständlich, das Magische heute so gut wie keine Rolle. Es ist jedenfalls aus dem Bewußtsein in die Tiefenschichten des Erlebens gedrängt oder besser gesagt, vom Rationalen überdeckt.

Zeichen eines aus dem Lot gerückten Zustandes ist die gegenwärtige Beziehungslosigkeit zwischen den überlieferten Formen des Brauchtums, der Brauchtumshandlung, ihren Trägern und der erlebenden Gemeinschaft. Man fühlt sich zwar verpflichtet, den Brauch auszuüben, weiß aber nicht, warum und wozu. Die Einhaltung der Tradition ist daher im Sinne des fortschrittlichen Denkens unökonomisch und sinnlos, vom immanenten Standpunkt des Brauchtums aus eine Erstarrung in Formalismus und Traditionalismus.

Demnach steht und fällt das „große“ Brauchtum der Gegenwart (es gibt daneben noch sehr viel „kleines“,- unansehnliches, daher unbeachtetes, daher auch unversehrtes Brauchtum) mit der Bedeutung, die man seiner Handlung beimessen wird. Hinter einem mehr oder weniger profanen Vordergrund wird beim echten Brauchtum immer wieder die Bindung und Bezogen- heit auf das Göttliche, wird d a s Religiöse sichtbar. Es läge gewiß im Sinne des geistigen Fortschrittes eines Volkes, wenn es sein schon sinnentleertes

Die Sorge für die älteren Angestellten ist sicher eine der schwierigsten Aufgaben, sozial und arbeitspolitisch gesehen.’ Und sie ist nur zu bewältigen, wenn die für Arbeit und soziale Ordnung Verantwortlichen sich zu verständnisvoller, lebendiger, zielwilliger Arbeit mit den Trägern der Wirtschaft zusammenfinden. Wäre es nicht angezeigt, wenn die hier erstzuständigen ministeriellen Ressorts alle Berufenen zu einer Enquete an den gemeinsamen Beratungstisch laden würden?

Die Not derer, die in der grauenvollen Leere zwischen zu alt und zu jung hängen, darf nicht länger übersehen werden.

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