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Kostbares altes Schrifttum

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Sosehr der Mensch in allen materiellen Dingen nach ausschließlichem Eigentum strebt, ebenso ist er mehr als freigebig mit seinen Gedanken und Ideen, vorausgesetzt, daß sich für diese kein materieller Gewinil erhoffen läßt. Im Reiche der geistigen Güter regiert Menschenfreundlichkeit und wahrer Kommunismus, liir Gedanken und Ideen gibt es keine staatlichen und zeitlichen Grenzen; doch aber sind auch geistige Schöplungen rettungslos Jem Untergang geweiht, wenn sie nicht in einem geschriebenen 0kr gedruckten Buch gleichsam — ich gebrauche einen uns heute geläufigen Ausdruck — wie in einer Konserve festgehalten werden. In diesem Zustande ist ihr Weiterleben gesichert, mögen sie auch jahrhundertelang unbeachtet bleiben.

Wer beurteilen kann, wie sehr unser ganzes Wissen, auch das naturwissenschaftliche, von den Werken antiker Denker ausgegangen ist, und jeder, der weiß, an wie dünnem Faden oft die Überlieferung der wichtigsten Werke römischen und jntiken Schrifttum] hängt, kann das Verdienst der Mönche ermessen, die im frühen Mittelalter das für uns so wertvolle antike Gei-stesgut vom vergänglichen Papyrus auf dal dauerhafte Pergament übertrugen.

Es gehört zu den Aufgaben meines Berufes, den Inhalt mittelalterlicher Hand-Schriften der Forschung zu erschließen. Bei dieser Arbeit ist so manches interessante Stück in meine Hände gekommen. Ich will nun hier an einer Handschrift zeigen, wie verschlungen und mehrere Weltteile umspannend die Wege sind, auf denen Gedanken über Völker, Staaten und Konfessionen hinweg ihren Weg nehmen.

Die Handschrift 482 der Universitätsbibliothek Graz, ein stattlicher Pergament-band in kleiner Schrift mit starken, für die Scholastiker -charakteristischen Kürzungen, wurde bald nach 1280 in Paris geschrieben. Ihr Inhalt würde gedruckt eine Reihe von Bänden ergeben.

Die ersten 16 Blätter enthalten drei philosophische Texte des Apuleius aus Madaura in Numidien, der im 2. Jahrhundert nach Christus lebte und in Karthago eine hohe politische Stelle einnahm. Ferne* bringt der Kodex vier Schriften des Alexander von Aphrodisias, eines berühmten Kommentators des Aristoteles um 200 nach Christus, und eine Abhandlung über den Intellekt von Alkindi, einem arabischen Philosophen, der um 870 in Bagdad starb. Weiter enthält der Band drei Texte von Alfarabi, der einer türkischen Familie im Turkestan entstammte und 950 in Damaskus sein I eben beendete. Ebenso drei Schriften des Avi-cenna aus Bochara, der dort Philosophie und Medizin studierte und den ein unstetes Leben an verschiedene Fürstenhöfe Persicns führte, wo er in 1 lamadan 1037 starb. Ferner finden sich in der Handschrift zwei Werke des Algazel aus Chorasan in Ptrsien, der bis 1095 in Bagdad lehrte. Zwölf Texte stammen von Averroes, der von 1126 bis 1198 meist in Cordoba in Spanien lebte und wegen Gefährdung der mohammedanischen Religion zeitweise verfolgt und in die Verbannung geschickt wurde. In der Pariser Artistenfakultät des 13. Jahrhunderts gab es elfte Richtung, welche die aristotelische Philosophie in der Auffassung des Averroes weiterbildete und zur These von der doppelten Wahrheit, der philosophischen und theologischen, gelangte, die zu lebhalten Erörterungen und Gegensätzen unter den Scholastikern des 13. Jahrhunderts führte. 82 Blätter enthalten unter dem Titel „Dux neutroruni“ eine lateinische Übersetzung des hebräischen Werkes „More nebuchim“ des Mose ben Maimon, gewöhnlich Maimonides genannt. Er ist in Cordoba in Spanien 1135 geboren, mußte infolge Judenverfolgungen fliehen und lebte nach langen Irrfahrten, die ihr. bis Bagdad führten, in Kairo als Arzt.

Dieser größte jüdische Philosoph des Mittelalters gilt als ein hervorragender Kenner jüdischer und arabischer Wissenschaft und der aristotelischen Philosophie. Sein Werk „More nebuchim“, eine religiös-wissenschaftliche Schrift, im Jahre 1190 vollendet, wurde noch vor 1230 ins Lateinische übersetzt. Eine deutsche Übertragung erschien in drei Bänden 1924 unter dem Titel „Führer der Unschlüssigen“, ein Beweis, daß er uns heute noch etwas bedeuten kann. Von abendländischen Autoren sind nur zwei Namen vertreten, der des Spaniers Dominikus Gundis-alvi, eines fruchtbaren philosophischen Schriftstellers um die Mitte des 12. Jahrhunderts, und des Engländers Alfred von Sareshel mit seiner um 1210 entstandenen Schrift „De motu cordis“, die Philosophie- und literargesduchtlich eine Übersicht über die Fragen der physiologisdien Psychologie des Mittelalters gibt. Dazu kommen noch sechzehn naturwissenschaftliche Texte, deren Autor in den meisten Fällen unbekannt ist.

Der Kodex enthält somit neben einigen Texten antiker philosophischer Schriftsteller solche jüdischer, arabischer, moham-medanisdier Philosophen, die in Unter-italien und in Toledo in Spanien, wo reiche Bibliotheken zur Verfügung standen, aus der hebräisdien und arabischen Sprache ins Lateinische übersetzt wurden.

So mannigfaltig der Inhalt der 49 Texte, die vom zweiten bis zum Anfang des 13. Jahrhunderts von Gelehrten verschiedener Konfessionen und Länder, von Turkestan, Bochara über Nordafrika, Spanien bis England verfaßt wurden, auch sein mag, so verbindet sie doch zu einer Einheit der große Idealismus, den Philosophen und Theologen des 13. Jahrhunderts im Abendland diesen Werken entgegenbraditen.

Wohl kannte das Abendland schon vor dem 13. Jahrhunden einige Schriften des Aristoteles. Diese Kenntnis wurde aber durch die arabisch-jüdische Philosophie, die auf der griechischen fußt, wesentlich vermehrt. So konnte das geistige Abendland durch eine strenge Denkschule gehen, die vorausgehen mußte, um der Wissensdiaft späterer Jahrhunderte den Weg zu bahnen.

Es ist anzunehmen, daß ein besonders begabter Kleriker, den das Stift St. Lambrecht an die Universität nach Paris schickte, um sich dort zum Lehrer für die Schule des heimatlichen Stiftes auszubilden, begeistert von der Philosophie jener Zeit, den wertvollen Kodex erwarb und diesen in das entlegene, einsame Waldland an der steirisch-kärntnerischen Grenze brachte.

Daß eine in Paris gesdiriebene Hand* schrift sich in der Steiermark befindet, ist an sich nicht auffallend, es sind ihrer nicht wenige. Die Handschriften, die heute in österreichischen Bibliotheken verwahrt werden, sind nur zum Teil in Österreich geschrieben. Ein hoher Prozentsatz stammt aus allen Teilen des Abendlandes. Umgekehrt liegen Handschriften, die in Österreich geschrieben wurden, in Bibliotheken anderer Länder, denn im Mittelalter war das Abenland kulturell und geistig eine Einheit. Paris war im 13. Und 14. Jahrhundert nicht das einzige, aber das hervorragendste geistige Zentrum. Von dort strahlte Forschung und Lehre, besonders in Theologie und Philosophie, in die übrigen Länder aus. In der Jurisprudenz und in der Medizin war Italien führend. Diese Vatsache kommt auch in unseren Handsdtriftenbeständen zum Ausdruck.

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