6704595-1963_46_11.jpg
Digital In Arbeit

Im breiten Strom der Geschichte

19451960198020002020

Mirabeau. Das Drama eines politischen Genies. Vom Herzog von Castries. Deutsch von Sigrid Stahlmann. Stuttgart, Kohlhammer-Veriag, 1963. 476 Seiten. Preis 24.50 DM.

19451960198020002020

Mirabeau. Das Drama eines politischen Genies. Vom Herzog von Castries. Deutsch von Sigrid Stahlmann. Stuttgart, Kohlhammer-Veriag, 1963. 476 Seiten. Preis 24.50 DM.

Werbung
Werbung
Werbung

Seit langem ist es üblich, daß die Erben historischer Namen Frankreichs selbst Geschichte schreiben oder andere Wissenschaften pflegen. In der Französischen Akademie gibt es meistens eine „Gruppe der Herzoge“. Es ist daher ganz natürlich, daß der Herzog von Castries die Lebensgeschichte des Gabriel-Honore Riqueti de Mirabeau geschrieben hat.

Mirabeau war der Mann, der das Stichwort für die Französische Revolution gab, als er den königlichen Zeremonienmeister aus der Ständeversammlung wies. Wer nicht selbst Republikaner ist, muß gegen diesen Mann voreingenommen sein. Der herzogliche Autor hat alles getan, um sein wissenschaftliches Gewissen gegen ein solches Vorurteil sicherzustellen. Als politisches Genie schildert er seinen Helden; als Mann — um den Umschlag zu zitieren —, dessen private Laster die Entspannung waren, die seine politischen Tugenden erforderten; Im ganzen als tragischen Helden, den ein früher Tod einer glänzenden Zukunft entriß. Doch schildert er ihn vollständig, das Elternhaus mitinbegriffen; und was sehen wir da? Lange bevor der Volkstribun den Despoten Krieg ansagte, führte er ihn erbarmungslos gegen zwei Arten Menschen: gegen die Gläubiger und Ehemänner. Ein mildernder Umstand freilich stand dem großen Mann zu: er war von bösartigen Narren gezeugt. Ein kurioser Freiheitsheld!

Nichts kann interessanter sein als die Geschichte dieses anormalen Lebens in der Abendstunde des Ancien Régime — als sich aus dem Konflikt zwischen den Bedürfnissen des modernen Staates und den Gegebenheiten der statischen feudalen Gesellschaft die explosive Lage ergab, die sich in der Katastrophe des alten Europa entladen hat.

Dennoch läßt dieser Band zu wünschen übrig. Ein biographisches Werk ist ohne jede Abbildung unvollständig; gerade für Mirabeau und sein Wirken ließe sich eine interessante Illustration mit leichter Mühe zusammenstellen. Zweitens ist die Übersetzung bedauerlich. Wohl ist das Äußerste an Schande vermieden — das Illustrierten- und Feuilletondeutsch —, und auf den ersten Blick liest sich das Ganze gut. Dann entdeckt man immer wieder, daß französische Wendungen wörtlich und verständnislos übersetzt sind. Ein Beispiel auf Seite 62: „in unmittelbarer Beziehung“ ist offenbar die wörtliche Übersetzung von „en relation directe“, was „in direktem Verhältnis“ heißt, und man überzeugt sich einmal mehr, daß zu einer guten Übersetzung auch einige Kenntnis der Realien des Themas beim Übersetzer gehört. Dem Unkundigen mag es gleichgültig scheinen, den Titel des Herrn von Dreux- Brézé mit „Hofmarschall“ zu übersetzen; einem Eskimo mag ja auch der Unterschied zwischen General-

major und Generaldirektor unbedeutend Vorkommen.

Aber zu wievielen Vergleichen regt der Lebenslauf dieses sturm- gewaltigen Redners doch an!

Herrscherbild und Tveixsicnx bei Notker Balbulus. Untersuchungen zu den Gesta Karoli. Von Theodor Siegrist. Heft 8, Geist und Werk der Zeiten; Arbeiten aus dem historischen Seminar der Universität Zürich. — Die Führerpersönlichkeit im Kreuzzug. Von Gereon H. Hagspiel. Heft 10, ebenda. Beide im Fretz-&-Wasmuth-Verlag, Zürich, 1963. Preis je 9.50 DM.

Schillers Epigramm auf die Johanniter, worin er das Ideal der christlichen Ritterschaft definiert, kommt einem unvermeidlich in den Sinn, wenn man diese zwei ideengeschichtlichen Untersuchungen liest. Hier werden zwei Abschnitte aus der Geschichte des abendländischen, germanischen, kämpferischen Christentums und seiner politischen Ordnung beschrieben. Die Untersuchung über Notker zeigt uns, wie ein belesener Mönch nicht nur die Persönlichkeit Karls des Großen, sondern auch die weit- und heilsgeschichtliche Stellung seines Weltreiches auffaßte, wie er das Zweikaiserproblem sah. Die Afbeit von Hagspiel extrahiert aus reichlichen zeitgenössischen Quellen nicht nur die Auffassung der Kreuzfahrerzeit von den Eigenschaften eines Vorkämpfers und Anführers überhaupt, sondern auch eine sozusagen Ehrenrettung Gottfrieds von Bouillon; es wird nämlich dargetan, wie mit dessen Wahl zum Herrscher von Jerusalem nicht etwa als Verlegenheitslösung ein frumb-tumb beschränkter Pfaffenknecht, sondern wohlweislich der fähigste Kriegsmann auserkoren wurde. Dabei werden übrigens über die absichtliche Schrecklichkeit der Kriegsführung bei den Kreuzfahrern so viele Belege gebracht, daß man sich manchmal an die unangenehmen Vorstel- luhgen gemahnt fühlt, die das Wort „Führerpersönlichkeit“ hervorzurufen geeignet ist. Gottlob gibt es auch menschlichere Dinge zu berichten. Da ist unter anderem die ideengeschichtlich bedeutsame Episode zu erwähnen, wie Balduin I. gerade darum feierlich zum König gekrönt wird, weil die Situation verzweifelt aussieht. So etwas würde modernen

Menschen kaum einfallen: die letzte Analogie ist die Ausrufung des Milan Obrenovic zum König in einem hoffnungslosen Moment des Türkenkriegs — mit entsprechender moralischer Wirkung. Aber das gehörte eben zum „heroischen“ Stil der balkanischen Junaci!

Mißlungene Staatsbildungen auf der An klagebank. Von Stjepan Buc. München, Buchdruckerei Logos, 1963. 68 Seiten.

Auf die Anklagebank setzt Dr. Buc den jugoslawischen Staat; zugleich wünscht er dessen Rechtfertigung, die herkömmliche serbische Geschichtsauffassung, zu widerlegen. Das ist sein gutes Recht. Jedermann weiß, daß Jugoslawien — zumal in der zentralistischen Gestalt von 1929 — die Kroaten nicht befriedigte; und unter dem heutigen jugoslawischen Regime kann man genügenden Spott über die patriotischdynastische „Archimanditen-Ge- schichtsschreibung“ lesen. So weit, so gut. Aber mit welcher geschichtlichen Vorbildung geht Dr. Buc an seine Aufgabe heran! Sapienti pauca: da kommen im Mittelalter „Kaliz- Türken (sogenannte Buzurmenen) aus Chiva“; da wirft man ernstlich die Frage auf, „ob die Kaöici illyrischer oder gotischer Herkunft sind“; die Anfänge der Serben hingegen „sind nicht auf dem illyro- gotischen Gebiet, sondern nur auf dem türkisch-byzantinischen zu finden“. Es kommt noch besser! Die Methodik der vergleichenden Sprachwissenschaft wird mit dem Ratschlag bereichert: „Die Frage der Entstehung der Sprachen der .slavi- schen“ Sprachgruppe wird am besten beleuchtet, wenn man eine jede für sich begrenzt und betrachtet.“ Mit dieser Methode kommt man denn auch zu dem Ergebnis, „daß es kein ,Slaventum’ in Wirklichkeit gibt, noch jemals gegeben hat“. Freilich ist dann auch „der bekannte österreichische Historiker J. Peisker“ für solche Resultate der würdige Kronzeuge. (Bekannt ist er schon — „aber fra£t mich nur nicht wie“!) — Nein, wahrhaftig: die ruhmreiche Ge schichte der kroatischen Nation ist es wert, von etwas besser ausgerüsteten Autoren geschrieben zu werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung