Marianne Gronemeyer: "Wir brauchen Gastlichkeit"

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Wer dominiert? Wer wird unterjocht? Diese Überlegungen prägen nach Ansicht Marianne Gronemeyers den Dialog zwischen den Kulturen. Im Interview skizziert die deutsche Erziehungs- und Sozialwissenschafterin demgegenüber ihre Vision einer "nicht-erzieherischen" Begegnung.

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Wer dominiert? Wer wird unterjocht? Diese Überlegungen prägen nach Ansicht Marianne Gronemeyers den Dialog zwischen den Kulturen. Im Interview skizziert die deutsche Erziehungs- und Sozialwissenschafterin demgegenüber ihre Vision einer "nicht-erzieherischen" Begegnung.

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DIE FURCHE: Frau Professor Gronemeyer, Sie befassen sich mit der Frage, wie das Gespräch zwischen verschiedenen Kulturen "nicht-erzieherischen" Charakter annehmen kann. Was macht das vorbehaltlose, offene Gespräch zwischen Hiergeborenen und Migrantinnen oder Migranten so schwierig?

Marianne Gronemeyer: Wenn wir an ein Gespräch zwischen so verschiedenen Menschen und Herkünften denken, dann stellt sich sofort eine Frage der Dominanz ein: Wer ist Sieger? Elias Canetti hat einmal gesagt: "Manches darf man nicht sein. Aber das einzige, was man nie sein darf, ist ein Sieger." Beim Gespräch zwischen den Menschen verschiedener Kulturen wird aber meist versucht, die eigene Dominanz zu wahren. Wenn nun Canettis Verdikt richtig ist, dann ist jedes dieser Gespräche ein Gewaltakt: Dass ich also gewaltsam die Sichtweise des anderen unterdrücke oder - als milde Variante - dass ich versuche, den anderen zu verstehen.

DIE FURCHE: Verstehen als Gewaltakt?

Gronemeyer: Das Fatale ist, dass das Verstehen in den allermeisten Fällen nur die elegante Variante der Unterwerfung ist. Es gibt sich ganz einfühlsam, hat aber in Wirklichkeit die gleiche Aggressivität: Am Ende soll nämlich der andere so sein wie ich! Das zeigt, dass in dem Augenblick, wo ich mich um Verstehen bemühe, ich von derselben Angst vor der Fremdheit des Fremden getrieben bin, wie wenn ich versuche, ihn zu unterjochen. Das Grundmotiv, das mich nötigt, mich verstehend oder unterwerfend des anderen zu bemächtigen, scheint eine große Unsicherheit zu sein.

DIE FURCHE: Aber ist Unsicherheit gegenüber einer fremden Kultur nicht nachzuvollziehen - noch dazu, wenn sie sich stärker ausbreitet als die eigene? Man denke etwa an jenen Statistiker des Vatikans, der errechnet haben will, dass die Zahl der Muslime jene der Katholiken überflügelt hat …

Gronemeyer: Die Frage ist, wie wir auf dieses Gefühl, in der Defensive zu sein, reagieren und ob wir eine Balance schaffen zwischen der Neugier auf das Andere und der Bedrohtheitsempfindung. Die Vorstellung, dass ich dem anderen ausgeliefert bin, dass er mir meinen Lebensraum streitig macht, liegt natürlich ganz nahe. Was dagegen zu tun ist, hat mit Gespräch zu tun - aber mit einem Gespräch, das nicht von vornherein mit der Absicht aufgeladen ist, den anderen zu domestizieren. Das Gespräch, das mir vorschwebt, hat etwas mit Gastlichkeit zu tun.

DIE FURCHE: Inwiefern?

Gronemeyer: In dem Wort "Gast" steckt Vieles: Sowohl der Gastgeber als auch der Gast entspringen demselben lateinischen Wort "hostes". Hier ist die Ebenbürtigkeit der beiden schon bezeugt. Es ist also nicht so, dass der Gastgeber nur gibt und der Gast nur der Nehmende ist. Daneben hat dieses Wort "hostes" aber noch eine dritte Bedeutung - nämlich "Feind". In der Gastgeberschaft steckt also die Idee, dass mir jemand durchaus als Gegner vorkommen kann, dass ich ihm aber trotz dieser Feindseligkeit vertraue - auch wenn es keine Garantie dafür gibt, dass dieses Vertrauen gerechtfertigt sein wird.

DIE FURCHE: Setzt Vertrauen nicht voraus, dass ich den anderen kenne?

Gronemeyer: Nein. Vertrauen setzt nichts anderes als Courage voraus - und den Blick in das Auge des anderen. Emmanuel Lévinas würde sagen: Im Auge des Anderen steht der Satz geschrieben: Du wirst nicht töten! Und das gleiche steht in meinen Augen. Jede Art von Begegnung ist also erst einmal eine Vertrauenssache.

DIE FURCHE: Was bedeutet Ihr Konzept der "Gastfreundschaft" für das konkrete Zusammenleben der Kulturen?

Gronemeyer: Das, wovon ich spreche, ist keine politische Strategie, sondern es ist angewiesen auf das Miteinander von Menschen, die einander gegenüberstehen. Zunächst ist es eine Vorbedingung, dass wir Verhältnisse schaffen, in denen wir uns begegnen können. Können wir einander begegnen, indem wir Integration als das oberste Ziel anpreisen? Oder können wir einander besser begegnen, indem wir das US-amerikanische Prinzip von "China Town" und "Little Italy" walten lassen - also Kulturgemeinschaften, die ihren Sitz in der anderen Kultur behalten und die es erforderlich machen, dass ich eine Grenze überschreite? Das heißt nicht, dass wir es so machen sollen wie in "Little Italy". Aber ich will davor warnen, zu behaupten, dass dieses Prinzip sofort Parallelgesellschaftsideen auslöst. Grenzerfahrungen zu machen bewahrt mich ja auch davor, dass ich allzu schnell die Fremdheit des Anderen unterschlage und so tue, als säßen wir alle in einem Boot. Robert Walser hat einmal gesagt: "Ich gestatte niemandem, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich." Die Grenzerfahrung warnt mich davor, mich dem Anderen gegenüber so zu benehmen, als kennte ich ihn. Ich werde ihn nie kennen, sondern bin ihm gegenüber in der Situation bleibender Fremdheit - sei er mir noch so nah.

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