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Entdeckung des Lesers...

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Noch 1958 mußte Ernst Richert aus seiner umfassenden Studie über das „System der publizistischen Massenführung in der Sowjetzone“ den Schluß ziehen, daß die kommunistische Agitation und Propaganda weitgehend auf die vielfältigen Möglichkeiten unmerklicher Beeinflussung und Manipulierung des Bewußtseins verzichtet und statt dessen mit den massiven Mitteln der geistigseelischen Indoktrination arbeitet. Doch 1964 kommen in der journalistischen ostdeutschen Fachzeitschrift „Neue Deutsche Presse“, Psychologen zu Wort mit der Ansicht: „In sorgfältig vorbereiteten Untersuchungen müssen unbewußte Einstellungen und Tendenzen des Personenkreises aufgedeckt werden, auf den sich unsere propagandistischen Einwirkungen richten. Das kann nur in enger Zusammenarbeit zwischen Journalisten und Sozialpsychologen geschehen.“ Diese Gegenüberstellung kennzeichnet das radikale Umdenken in der Pressetheorie und -praxis, das sich seit der Untersuchung Richerts entwickelt und heute durchgesetzt hat.

An manchen Mißerfolgen der propagandistischen Zeitungsarbeit der Vergangenheit haben die Presse- und Propagandafachleute dort gelernt, daß eine nur mit den massiven Methoden der Agitation und Propaganda gestaltete Zeitung beim Leset nicht den erhofften Anklang findet. „Agitationskästen“ in uniformen Zeitungen, stereotype Wendungen und bis zum Ubermaß wiederholte „Losungen“, „fortschrittlicher Optimismus“, den die täglichen Erfahrungen Lügen straften, Monotonie in Inhalt und Aufmachung der ostdeutschen Blätter haben nicht im vollen Maß die gewünschte Wirkung erzielt: „Die sozialistische Bewußtseinsbildung der Massen.“ Auf der Suche nach einem neuen erfolgversprechenderen — Weg zum Leser sieht die deutsche Journalistik jenseits der Elbe heute die Notwendigkeit, Psyche und Meinung des Lesers stärker zu berücksichtigen, erkennt sie Wert und Nutzen psychologischer und soziologischer Erkenntnisse für eine effektive Zeitungsgestaltung. Die massiven traditionellen Mittel der Meinungsbildung kommen zwar weiterhin zum Einsatz, jedoch korrigiert und erweitert unter dem Einfluß sachkundiger Psychologen und Soziologen: Sie empfehlen z. B. stereotype Wendungen und Losungen, Superlative und Wiederholung — mit dem Hinweis auf „Sättigungserscheinungen“ — nur noch sehr vorsichtig als Methoden systematischer Pressearbeit; sie machen aufmerksam auf die Bedeutung eines lebendigen Umbruchs als Wirkungsfaktor, auf den „Aufforderungscharakter“ der äußeren Aufmachung; sie raten zu einer inhaltlichen Gestaltung der Zeitung als „psychologisches Lernobjekt“ unter pädagogischen Gesichtspunkten; sie verlangen Rücksichtnahme der Publizisten und Propagandisten auf die „Persönlichkeit“ des Lesers; sie fordern empirische Meinungsforschung als Grundlage massenwirksamer Zeitungsarbeit.

Leseranalysen, Meinungsumfragen, Zeitungswirkungsforschung, Fragebogenaktionen überfluten heute da Lesepublikum in der deutschen Sowjetzone; jede Redaktion ist gehalten, die Meinung ihrer Leser zu erforschen. 1960 noch lehnte Ernst Hansch, im „Journalistischen Handbuch der DDR“ diese „Methoden jener berüchtigten kapitalistischen Meinungsforschungsinstitute“ entrüstet ab — im April 1964 kann man von demselben Ernst Hansch in der „Neuen Deutschen Presse“ eine Aufforderung zur systematischen Untersuchung der Leserschaft und Erörterungen über den Nutzwert von Leseranalysen für die praktische Zeitungsarbeit finden!

Mit dem Ziel einer wirksameren Pressepropaganda werden dem ostdeutschen Journalisten in zunehmendem Maß psychologische Kenntnisse durch Artikel in seinen Fachorganen, durch Lehrbriefe, Vorträge, Seminare und Lehrgänge vermittelt. Während Diplompsychologe Günther Fischer im Februar 1964 bedauert, daß die Psychologie noch nicht Bestandteil der journalistischen Ausbildung sei, liest man schon im Mai 1965 in der „Neuen Deutschen Presse“ einen Bericht aus der „Deutschen Journalistenschule“, daß die Seminarteilnehmer „vom Nutzen des psychologischen Herangehens an die journalistische Arbeit“ überzeugt und systematisch im Fach Psychologie unterrichtet werden. Lehren, Gesetze und Vokabeln, die im Westen in der kommerziellen Werbung und in der Pädagogik eine Rolle spielen und mit Erfolg angewendet werden, gehören seit neuestem in Ostdeutschland zum Ausbildungsprogramm von Nachrichtenredakteuren, Kolumnisten, Feuilletonisten, Literaturkritikern, Photoreportern, Lokalberichterstattern. Trotz der Ablehnung, die diese streng wissenschaftliche Neuorientierung journalistischer Arbeit und die darin implizierte Abwertung journalistischer Intuition und Spontanität vor allem bei der älteren Journalistengeneration auslöst, wird der planmäßige Einsatz von Methoden der Wahrnehmungs- und Lerntheorie, von Statistik und Werbepsychologie zur ideologischen Meinungsbildung der Leser angestrebt.

Da dieser Weg der Zeitungsgestaltung unter psychologischen und soziologischen Aspekten erst seit neuestem propagiert wird und die Weitervermittlung der neuen Theoria an die Zeitungspraktiker noch ganz am Anfang steht, ist die Zeit zu kurz, um schon derartige Veränderungen und Auswirkungen in Zeitungen und Zeitschriften erwarten zu können, die sich auf die gesamte Presse der DDR verallgemeinern ließen. Da auch weitgehend empirische Untersuchungen von westdeutscher Seite über öffentliche Meinung und Zeitungswirkung in Ostdeutschland fehlen, müßte man sich mit 4er Frage nach dem Erfolg dieser neuen publizistischen Methoden an die empirische Meinungsforschung und Zeitungswirkungsforschung sowj et -zonaler Institute wenden, soweit deren Ergebnisse veröffentlicht sind. Doch selbst wenn man von dem Vorurteil absieht, daß die Ergebnisse noch ungünstiger seien als öffentlich zugegeben wird, kann man ihnen nur mit großem Vorbehalt begegnen. Denn eine empirische Meinungsforschung, die erklärtermaßen als meinungsbildende Aktion verstanden wird und „ideologisch vertretbar“ angelegt sein muß — wie in den Fachpublikationen immer wieder betont wird —, garantiert nach westlicher Auffassung keine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der Verhältnisse. So kann die Frage nach dem Erfolg dieses neuen Weges zur „Massenwirksamkeit“ der sowjetzonalen Zeitungen nicht, zumindest noch nicht, beantwortet werden.

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