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Vorkämpferin der Freiheit

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Aber gleichzeitig gab sie unmißverständlich zu erkennen, daß sie im jakobinisch-diktatorischen Vorgehen Lenins nicht nur einen Fehler, sondern eine eminente Gefahr für die Zukunft des Sozialismus sah. Sie beklagte die „sehr kühle Geringschätzung“, die Lenin und Genossen „gegenüber der konstituierenden Versammlung, dem allgemeinen Wahlrecht, der Presse- und Versammlungsfreiheit, kurz dem ganzen Apparat der demokratischen Grundfreiheiten der Volksmassen... an den Tag legten.“ Denn bei diesen demokratischen Formen des politischen Lebens handle es sich um „höchst wertvolle, ja unentbehrliche Grundlagen der sozialistischen Politik“. Sie verwarf die bereits erwähnte Auflösung der konstituierenden Versammlung durch Lenin, wies auf das Beispiel des Langen Parlaments in England hin, das sieben Jahre lang die englische Revolution begleitete, und stellte kategorisch fest, es sei „das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gefunden, die Beseitigung der Demokratie überhaupt, noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll; es verschüttet nämlich den. lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institution allein korrigiert werden können.“ Ohne freie Presse, ohne ungehindertes Vereinsund Versammlungsleben sei eine Herrschaft breiter Volksmassen „völ-

lig undenkbar“. Der Sozialismus verfüge über kein fertiges Rezept, kein ausgearbeitetes Programm, er lasse sich „seiner Natur nach nicht oktroyieren ..., durch Ukase einführen“. Lenin vergreife sich völlig in den Mitteln, ohne Demokratie degeneriere der Sozialismus zu Bürokratie, Scheinleben und Cliquenwirtschaft führe zu einer Politiker -diktatur im bürgerlichen Sinn und zum Terror. Wiederum forderte sie „Aktivität und Selbstverantwortung der Massen, also die breiteste politische Freiheit“, und ihre harte Kritik gipfelte in einer der schönsten Definitionen von Freiheit, die je formuliert wurden: „Freiheit mir für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei — ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden.“

Niemand kann wissen, welchen Verlauf die Entwicklung der Sowjetunion genommen hätte, hätten Lenin und Trotzki damals auf Rosa Luxemburg gehört. Wir kennen nur den tatsächlichen Verlauf dieser Entwicklung, und dieser ist, was die Verwirklichung der humanistisch-sozialistischen Grundgedanken anbelangt, so düster und bis zum heutigen Tage so enttäuschend, daß man die Hypothese wagen darf, mit Rosa Luxemburg wäre die Sowjetunion zwar vielleicht weniger rasch und energisch industrialisiert, dafür aber entschieden rascher und energischer humanisiert worden.

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