Sibylle Lewitscharoff - © Foto: Hannibal/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++

Sibylle Lewitscharoff: "Wir alle leben in zwei Welten"

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Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff im Gespräch über die Bibel als Literatur, biblisches Strandgut in der modernen Literatur und die poetische Kraft von Dantes "Divina Commedia".

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Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff im Gespräch über die Bibel als Literatur, biblisches Strandgut in der modernen Literatur und die poetische Kraft von Dantes "Divina Commedia".

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Die Berliner Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff eröffnet am 19. April 2016 die neue Poetikdozentur "Literatur und Religion" an der Universität Wien mit dem Vortrag: "Mit Dante über Dante hinaus. Zum Verhältnis zwischen Literatur und Religion". Aus diesem Anlass führte der Theologe Jan-Heiner Tück mit ihr per E-Mail das folgende Gespräch.

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DIE FURCHE: Was reizt Sie an der Konstellation "Literatur - Religion"?

Sibylle Lewitscharoff: Der Zusammenklang stimmt mich nur dann bedenklich, wenn die Bibel mir nichts, dir nichts zur Literatur erklärt wird. Das ist heute oft der Fall. Damit leugnet man aber auch, dass es sich um ein wahrhaftiges Buch handelt. Die Literatur darf, muss, kann schwindeln, sie ist nur hinterrücks der Wahrheit verpflichtet, jedenfalls nicht im wörtlichen Sinne. Damit spielt die Literatur grundsätzlich auf anderem Terrain als die Bibel, deren Wahrheitsanspruch ein vollkommen anderer ist. Aber natürlich darf die Literatur religiöse Themen aufgreifen. Sie untersteht dann der Literaturkritik, kann aber schwerlich unters Feuer der theologischen Geschütze genommen werden.

DIE FURCHE: Fragen der menschlichen Selbstverständigung: "Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? Mit wem bin ich unterwegs? Wo finde ich Glück? Was hat es mit Leid, Schuld und Tod auf sich?" spielen nicht nur in der Bibel, sondern auch in der Literatur eine Rolle.

Lewitscharoff: Das stimmt natürlich, dies sind auch die großen Fragen der Literatur. Wie Menschen beschaffen sind, wovon sie träumen, wie verkehrt sie oft genug in der Welt herumstehen oder herumeilen, das Lied von Bosheit und überraschender Güte wird auch in der Literatur gesungen. Aber noch einmal zur Frage, inwieweit die Bibel Literatur sein kann. An einigen Stellen ist sie dies zweifellos, etwa bei den Psalmen oder dem Hohelied Salomos. Aber sonst? Den Unterschied kann man ganz leicht deutlich machen: die Josefsgeschichte in der Jüdischen Bibel füllt wenige Abschnitte, Thomas Mann hat daraus einen Roman von über tausend Seiten gemacht. In der Bibel glost zwischen den parataktischen Knappsätzen ein schwarzes Loch nach dem anderen, das mit theologischer Interpretation gefüllt werden kann. Gerade deshalb ist sie so aufregend geblieben und konnte über Jahrhunderte hinweg immer wieder neu interpretiert werden. Allzu ausformulierte Geschichten kommen in puncto Interpretation rasch an ihr Ende, für die nächste Generation mag das noch ein bezaubernder Text sein, aber durchgreifende Rätsel bietet er alsbald nicht mehr. Lodernde Ausnahme: Franz Kafka. Er ist der einzige mir bekannte moderne Schriftsteller, in dessen Prosa sich biblisches Strandgut und eine verzweifelte Suche nach Gott, der sich unaufhörlich entzieht und zugleich eine bedrohliche Schimäre bleibt, mit bohrender Intensität findet.

DIE FURCHE: Religion steht auch dafür, dass die Wirklichkeit nicht auf das Sichtbare, Greifbare, empirisch Überprüfbare eingeschränkt wird. Sie selbst haben in Ihren Büchern wiederholt eine fiktive Erweiterung des Wirklichkeitsbegriffs durchgespielt. In Ihrem Roman "Blumenberg" sitzt der aufgeklärte Philosoph nachts am Schreibtisch und sieht plötzlich einen schläfrigen Löwen auf dem Teppich, als wäre er ein spätmoderner Nachfolger des Heiligen Hieronymus. In "Consummatus" trinkt sich der Protagonist nach und nach in eine Stimmung hinein, die ihm das Gespräch mit seinen Toten erleichtert. Kurz, es sieht so aus, als wollten Sie sich dem Diktat des literarischen Realismus widersetzen und sagen: Wer eine Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit ausklammert, ist kein Realist, sondern ein Reduktionist.

Lewitscharoff: Das hätte ich nicht besser formulieren können: Ja! Wir alle leben in zwei Welten, der alltagstauglich realistischen und einer träumerisch anderen, die mit religiöser Inbrunst aufgeladen ist, mit Selbsterhöhung, Selbsterniedrigung, absurden Findeversuchen rund um unsere maßgeblich unmaßgebliche Person oder fabulösen Klacksen aus einem fantastischen Kompott, das nur mehr schwache Bezüge zu religiösen Determinanten kennt. Natürlich ist das Futter für die Literatur.

DIE FURCHE: In Ihrem Vortrag werden Sie Dante zum Thema machen. Seine "Divina Commedia" beschreibt eine Jenseits-Reise durch die Landschaften, die es auf der anderen Seite des Todes zu entdecken gibt. Unter Anleitung von Vergil führt sie den Dichter vom Tiefpunkt der Hölle über den Läuterungsberg bis hin zum Paradies. Was reizt Sie an Dante?

Lewitscharoff: Vor allem die poetische Kraft seiner Dichtung. Ein unglaubliches Werk, unvergleichlich. Natürlich gibt es etliche Jenseitsdarstellungen in den verschiedenen Kulturen. Aber wer außer Dante hat es vermocht, eine derart durchkomponierte, detailgenaue Beschreibung der drei Aufenthaltsorte für die Seelen nach dem Tod zu verfassen? In hinreißenden Terzinen?

DIE FURCHE: Im September wird Ihr Dante-Roman "Das Pfingstwunder" erscheinen ...

Lewitscharoff: Es handelt sich um einen internationalen Kongress von Dante-Gelehrten, der auf dem aventinischen Hügel in Rom, im Haus der Malteser stattfindet. Auf ungewöhnliche Weise nimmt der Kongress Fahrt auf. Es endet damit, dass über die Teilnehmer ein neues Sprachwunder hereinbricht, kein apostolisches Sprachwunder, sondern eines, in dem sich die verschiedenen Sprachen und Geräusche mischen und neu zusammensetzen. Enthusiasmiert öffnen die Forscher die Fenster des Saales und fliegen stracks gen Himmel. Einer von ihnen ist wie festgenagelt auf seinem Stuhl sitzengeblieben. Er erzählt.

Mit Dante über Dante hinaus. Zum Verhältnis zwischen Literatur und Religion Vorlesung von Sibylle Lewitscharoff 19. April 2016,18.30 Uhr Universität Wien, Elise-Richter-Saal

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