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Bravo! Großartig! Perfekt! Ausgezeichnet!

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Vergessen Sie alles, was Sie bislang über den Ingeborg-Bachmann-Preis 1993 gelesen haben, vor allem die feuilletonisti-schen Machwerke, die aus der Feder von sattsam bekannten Neidern, notorischen Nörglern und dubiosen Destrukteuren stammen.

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Vergessen Sie alles, was Sie bislang über den Ingeborg-Bachmann-Preis 1993 gelesen haben, vor allem die feuilletonisti-schen Machwerke, die aus der Feder von sattsam bekannten Neidern, notorischen Nörglern und dubiosen Destrukteuren stammen.

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In Wahrheit war der Bachmannpreis 1993 ohne jede Übertreibung das literarische Ereignis schlechthin, und sein Platz in der Geschichte der Weltliteratur ist ihm sicher, auch wenn sich die Veranstaltung selbst in sympathischer Bescheidenheit als „Nachwuchsfestival” bezeichnet und die potentielle Existenz von Außerbach-mannpreisliteratur weder kategorisch, noch dezidiert ausschließt, eine cap-tatio benevolentiae, die aber insofern gar nicht nötig wäre, als selbst die pragmatisierten Götter von Adalbert Stifter bis Thomas Mann, die von der olympischen Jury immer wieder angerufen werden, nicht allzuoft derart hochdotierte Preise einheimsen konnten wie den hier zu feiernden. Vielleicht wird erst die Generation nach uns entsprechend zu würdigen wissen, welche poetischen Maßstäbe und Meilensteine hier gesetzt wurden.

Heute schon läßt sich aber feststellen, daß der Bachmannpreis, nunmehr von seinen Kinderkrankheiten kuriert, als Institution für die Literatur (das ist die Antwort auf die Welt) absolut unverzichtbar geworden und nicht mehr wegzudenken ist, was übrigens auch für Klagenfurt, eine Art Betle-hem des Schöngeists, gilt, von wo aus die Welt von 9-13 und 15-17 Uhr beantwortet wird. Der Bachmannpreis mag seine marginalen Tücken und Eigengesetzlichkeiten haben, aber er tut der Literatur nur Gutes, und er verschafft ihr wie keine zweite Veranstaltung eine breite Öffentlichkeit und ein Millionenpublikum. Daß diese Öffentlichkeit die Bücher der teilnehmenden Angela Praesent (Jurorin) und Hanna Johansen (Autorin), die beim parallel stattfindenden Bü-cherbazar zum volksnahen Preis von fünf Schilling angeboten wurden, insofern nicht zu schätzen wußte, als kein einziges Exemplar verkauft wurde, ist ein Detail,von solcher Niedrigkeit, daß ich es gar nicht erwähnen möchte.

Trend-Feststellung

Außerdem wirkt kein zweites Literaturspektakel (im besten Sinn) das Wunder, aus 22 mehr oder weniger zufalligen Autoren, die von elf mehr oder weniger zufälligen Juroren vorgeschlagen wurden, immer wieder Trends für die deutschsprachige Literatur als solche abzuleiten. Der diesjährige Trend geht bei aller Vorsicht doch hin zum „Erzählen von Geschichten”, Geschichten, die am Weg zu Geschichten sind, mitinbegriffen. Wie ein Erdbeben läßt dieses Aha-Erlebnis die literarische Landschaft erzittern, und auch die breite Öffentlichkeit bebt ein bißchen mit. Das nennt man: Aura (Atmosphäre), durchsetzt mit konzentrierten Übermenschen, umrahmt von konzentriertem Überpublikum. Nebenbei fällt auch für die Literaturindustrie reiche Ernte (Metapher!) ab: Die jungen Autoren lechzen nach Lektoren, die Lektoren lechzen nach jungen Autoren (wie und wo anders sollte man schon Kontakt bekommen?), das Publikum lechzt nach nach Lektoren lechzenden Autoren lechzenden Lektoren.

Die Texte selbst waren 1993 summa summarum beeindruckend, samt und sonders zielten sie nicht auf billige Skandale ab, sondern präsentierten sich als unaufdringliche Großartigkeiten, Kostbarkeiten und Kleinode: Weltlaboratorien, Nachrichten aus dem Dickdarm der Psyche, aus Meran, Leipzig und der Provinz, Vivisektionen der Wahrnehmung, vagabundierend, hinterhältig platt, romantisch-ironisch, phantastisch, interessant, spannend, hoffnungslos, mysteriös-hermetisch, resignativ (im besten Sinn), voller Bedrückungsqualitäten, anything goes, sodaß man nach 22 Literaturen in dreieinhalb Tagen wirklich Lust auf Literatur bekommt.

Jeder ein Senkrechtstarter

Es wäre ungerecht, angesichts der geschlossenen Dichterschaftsleistung einen gesondert hervorzuheben, aber folgende 22 Namen wird man sich merken müssen: Kurt Drawert (200.000 Schilling für den Untergang des Seins), Hanna Johansen (100.000 Schilling), Sandra Kellein (75.000 Schilling), Jan Peter Bremer, Dirk Brauns (je 42.000 Schilling), Matthias Altenburg, Susanne Geiger, Sabine Gruber, Christina Günther, Rudolf Habringer, Reinhard Kaiser, Michael Kleeberg, Bettina Klix,

Gabriele Kögl, Helmut Krausser, Ludwig Laher, Thomas Lehr, Dirk van Petersdorff, Benjamin Stein, Wilfried Steiner, Hans-Ulrich Treichel und Christina Viragh (alle: Aufwandsentschädigung plus Hotelzimmer): Lauter Senkrechtstarter, jeder startete auf seine Weise, aber einer senkrechter als der andere. Und wer weiß, vielleicht wird es manchen von ihnen gelingen, sich dereinst in den Reigen der Himmlischen von Birgit Vanderbeke über Katja Lange-Müller bis Angela Krauß und Emine Sevgi Özdamar einzugliedern, Namen, die längst zu Begriffen geworden sind, Namen, die mittlerweile jedes Kind kennt.

Daß sich die Jury auch diesmal aus Hermeneuten von internationaler Bedeutung zusammensetzte, versteht sich von selbst, sei es der gerechte Professor Klaus Amann, sei es die charmante Frau Professor Konstanze Fliedl, der spitzbübische Maxim Biller oder der niveauvolle Werner Fuld. Aber auch die übrigen sieben über alle Zweifel erhabenen Namen der Jury wird man sich merken müssen (Anruf beim ORF Kärnten genügt). Sie agierte: würdig, seriös, verantwortungsvoll, einfühlsam, fair, subtil nuanciert, tolerant, genau, bestechend unbestechlich, schonungslos intellektuelle Billigkeiten mißbilligend, gebildet, kurzweilig, scharfsinnig, konzentriert, kontrovers, selbstkritisch, differenziert, um nur die wichtigsten Adjektiva zu nennen, denen sie kompetent und eloquent mißtraute.

Das österreichische Verzweifeltsein ist wie immer viel schöner und viel profunder und viel plastischer als das deutsche Verzweifeltsein, nur hat die deutsche Verzweifeltseinsverwaltung den Verzweifeltseinsmarkt hinter sich und damit in der Jury die absolute Mehrheit, das ist relativ traurig.

Juroren-Kompetenz

Dank ihrer langjährigen Tiefenieseerfahrung wissen die (im besten Sinn) grundsatzdiskutiersüchtigen Juroren, daß die Wirklichkeit so schlimm ist, daß sie beschrieben werden muß, und als „zurechnungsfähiges Wir der Vernunft” (Hegel) wissen sie ebenso, daß das Stilistische die Nagelprobe jeder Prosa ist. Dank ihres Erfahrungshorizonts wenden sich die Juroren unisono gegen ihnen bereits bekannte Klischees (zum Beispiel: Bauernsöhne saufen und schweinigeln; alle Menschen sind sterblich).

Zurecht enttäuscht sind sie, wenn sie vom Autor kein Rätsel bekommen, das sie lösen können, oder wenn sie vom Autor ein Rätsel bekommen, das sie nicht lösen können, das tut man nicht als Autor! Felsenfest sind alle vom Universitätsprofessor aus den USA bis zum Kantineur aus Trutten-dorf überzeugt, daß sich die diachro-ne, also subsumtive und die synchrone Rezeptionsebene zum Wohl des „Lesers” (das sind vielleicht gerade

Sie!) vereinbaren lassen, daß also ein funktionables Scharnier zwischen analytischem Verstand und Geschmack existiert. Gute Prosa steht in der „besten Tradition eines Schnitzler” (Philip Roth, F. X. Kroetz, Winkler, Innerho-fer, Sterne et cetera), bei weniger guter „hat man das bei Schnitzler (...) auch schon gehört”. Gute Prosa ist „gebildet-geistreich” und voller Anspielungen, weniger gute „eine Maturazeitung”. Bei guten Texten ist es gut, daß sie einen Subtext haben, bei weniger guten weniger gut, die Juroren differenzieren da ganz genau.

Zum Abschluß der Veranstaltung vergaß das Organisationskomitee nicht darauf, Ingeborg Bachmann, die der eindrucksvollen Literaturmitteleuropameisterschaft dankenswerterweise wie immer den Namen spendierte, anläßlich ihres zwanzigsten Todestages eine filmische Hommage zu widmen, die in den bewegenden Worten der Frau Bachmann persönlich gipfelte, es gäbe für einen Schriftsteller gar nichts Wichtigeres und Besseres und Bedeutsameres, als möglichst oft mit möglichst vielen anderen Schriftstellern zusammenzusein. Ein Schriftsteller soll unter Schriftstellern leben!

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