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Ein Plädoyer für das Aufrechterhalten der Spannung zwischen Vernunft und Glaube.

Gott, Religion, Glaube - um diese Begriffe kreisten einige der wichtigsten, intensivsten Debatten des ablaufenden Jahres: Die Auseinandersetzung um den designiert gewesenen EU-Kommissar Rocco Buttiglione, die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo Van Gogh, die "Gott in die Verfassung"-Frage, der immer wieder aufkommende Kopftuchstreit, dazu die EU/Türkei-Debatte markieren wesentliche Punkte auf diesem Themenfeld - und das alles nach wie vor grundiert von jener Befindlichkeit, für die, über alle transatlantischen Differenzen hinweg, 9/11 zur Chiffre geworden ist. In all dem bündelte sich jeweils das Problem von Religion unter den Bedingungen von liberalen, pluralistischen Gesellschaften in seiner ganzen Komplexität. Immer ging es dabei um die Mutter aller "Gretchenfragen": wie es denn solche Gesellschaften mit der Religion halten; aber auch umgekehrt: wie Religionen mit für diese Gesellschaften unaufgebbaren, konstitutiven Individual- und Freiheitsrechten umzugehen vermögen.

Es steht zu vermuten, dass die Rückkehr dieser Thematik auf die Agenda der öffentlichen Diskurse keine bloße Anekdote darstellt, nicht einfach eine launige Episode der Geistes- und Kulturgeschichte, sondern dass wir vielmehr hier erst am Anfang grundlegender, wohl auch schmerzhafter Kontroversen stehen. Wer etwa in den letzten Tagen die Nachricht vernahm, dass in einigen italienischen Schulen aus Rücksicht auf muslimische Kinder keine Krippen aufgestellt werden, statt der Weihnachtsgeschichte Rotkäppchen vorgelesen oder in Liedern "Gesù" (Jesus) durch "virtù" (Tugend) ersetzt wird, der ahnt: So schnell wird uns das alles nicht mehr los lassen, mögen wir das nun bedauern oder begrüßen.

Wer es nicht schon früher wusste, dem dürfte spätestens in diesem Jahr endgültig klar geworden sein: ein lineares Verständnis von fortschreitender Aufklärung, dem eine schwindende Religiosität korrespondiert, greift nicht. Im Gegenteil: Je größer die Unsicherheiten werden, je mehr Grenzen verschwimmen, fix Geglaubtes sich als obsolet erweist, desto mehr wird den Menschen dämmern, dass ein Weniger an Liberalisierung und Deregulierung - gesellschaftlich wie ökonomisch - doch das Menschengerechtere sein könnte.

Eine wesentliche Klarstellung zu einem anderen einschlägigen Missverständnis verdanken wir dem Publizisten Jan Ross: "Eine liberale Gesellschaft", so schrieb er in der Zeit zur Buttiglione-Debatte, "ist keine aus lauter Liberalen, sondern eine mit einer liberalen Haltung, auch gegenüber Liberalismuskritikern." In der Tat: Man kann, wie man gesehen hat, einen EU-Kommissar verhindern, aber dass es Leute in Führungspositionen gibt, die wie Buttiglione denken, damit muss eine wirklich liberale Gesellschaft zu Rande kommen, erst recht, wenn man nicht nur an Christen sondern auch an Muslime denkt. Was von der Causa blieb, war ein vordergründiges Signal, welches die Auseinandersetzung mit dem zugrunde liegenden eigentlichen Problem keinen Schritt vorwärts brachte.

Nichts wäre freilich falscher als irgendeine Form religiösen Triumphalismus', der vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen seine Stunde gekommen sähe. Für die christlichen Kirchen, besonders die katholische, besteht - nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit dem Islam - die entscheidende Herausforderung vielmehr darin, "Mut zur Vernunft" zu zeigen, wie Ulrich Ruh, Chefredakteur der Herder Korrespondenz, unlängst in einem luziden Leitartikel postuliert hat. Das hieße, dem (auch unter Christen) grassierenden neuen Irrationalismusdie Überzeugung entgegenzuhalten, dass Denken und Glauben, Vernunft und Religion, Wort und Wahrheit (so der programmatische Titel einer einstigen Zeitschrift) aufeinander verwiesen sind und bezogen bleiben müssen. Tomás Halík, Prager Soziologe und Priester, als katholischer Intellektueller eine rare Lichtgestalt, sprach vor einiger Zeit in Wien von der "freundschaftlichen Spannung" zwischen "Glauben und Verstand" als den "zwei Polen der westlichen Kultur", die nicht aufgelöst werden dürfe. Um nicht weniger geht es; billiger sollten es Christen, zumal in Zeiten des - auch geistigen - Schnäppchenwesens, nicht geben.

rudolf.mitloehner@furche.at

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