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Der Versuch Barbu

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Auf einer längeren Reise hatte der Verfasser Gelegenheit, das Geistesleben Frankreichs zu studieren. Zwei Dinge waren es, die am meisten die Aufmerksamkeit fesselten; die Frankreich- und Paris- Mission und ähnliche Bewegungen im Klerus und die neuen Werk- undLe- bensgemeinschaften unter der Arbeiterschaft. Immer steht im Vordergrund der Gemeinschaftsgedanke und das Bestreben, eine echte demokratische Lebensform zu verwirklichen. Man ist erstaunt über den Elan, die Generosität und über den Heroismus, der sich in diesen Bewegungen kundgibt. Es werden da neue Wege beschritten wie noch in keinem anderen Land. Sie stehen zum Teil in scharfem Kontrast zur allgemeinen Lage des Landes, zu seiner Politik, seiner Wirtschafts- und Rechtsordnung. Um so mehr treten sie ins Licht und um so stärker werden sie umstritten. Hier soll von dem neuen Versuch berichtet werden, den ein Mann von 40 Jahren, namens Barbu, in Valence in Südfrankreich erfolgreich unternommen hat. Fanatiker der Freiheit der Persönlichkeit, verfolgte er das Ziel, Proletarier zu freien Menschen zu mähen, ihnen die Bildungsmittel und Kulturgüter zur Verfügung zu stellen, sie geistig zu heben, sie innerlich umzuwandeln, daß sie reif würden, alle Produktionsmittel eines Betriebes gemeinsam zu besitzen und sich gemeinsam den Gewinn zu teilen. Er hat eine Gemeinschaft von etwa hundert Familien ins Leben gerufen, die als materielle Grundlage ihrer Existenz eine Uhrengehäusefabrik betreibt mit einem Personal von 131 Leuten, die alle Mitglieder der Gemeinschaft sind und aus dem Proletariat kommen. Zur Gemeinschaft gehören auch die Frauen und Kinder. Alle Produktionsmittel sind gemeinsamer Besitz. Die Mitglieder teilen sich den Gewinn, aber nicht nah gleichen Teilen, sondern nah ihrem „menschlichen Wert“, wie sie sagen, das heißt, niht bloß nah ihren beruflihen Leistungen, sondern ebenso nah ihrem persönlichen Wert, nah ihren sozialen Leistungen und nah ihrer Tugend. Der Gewinn vieler Menshen beruht auf irgendeiner Unredlichkeit. Hier aber wird die Tugend belohnt.

Wir waren 36 Besucher, wurden in Gruppen eingeteilt zu fünf oder sehs mit je einem Gruppenleiter, der auh ein Besucher war. Der Besuh der Gemeinschaft dauert drei Tage und ist allmonatlich in einer Art Tagung organisiert mit Vorträgen, Führungen, Teilnahme an den Veranstaltungen, zum Beispiel Versammlungen von Arbeitskreisen usw. Der Besuher hat Gelegenheit, in das Leben und Treiben der Gemeinschaft und in die Geschäftsführung der Fabrik genauen Einblick zu nehmen. Die Gemeinschaft setzt sih aus Leuten der verschiedensten Weltanshauungen zusammen. Katholiken, Protestanten, Humanisten, Materialisten und Kommunisten. Wir kamen aus dem Staunen niht heraus, daß Leute so vershiedener Überzeugungen sih gut vertragen und in einem brüderlihen Verhältnis zueinander stehen. Ihr Gemeinschaftsleben ist auf brüderliher Zurechtweisung und Freimut aufgebaut. Unstimmigkeiten wer den in einer Kontaktversammlung öffentlich bereinigt.

Was wir am shwersten glauben und begreifen konnten, war das Gesetz der Einstimmigkeit. Alle Beshlüsse müssen, um Gültigkeit zu erlangen, einstimmig angenommen werden, ebenso muß die Wahl des Leiters der Gemeinschaft sowie der einzelnen Abteilungs- und Gruppenleiter einstimmig erfolgen. Es wurde immer Einstimmigkeit erzielt, und als Grund hiefür wird angeführt, daß das ganze Gemeinschaftsleben auf dem eigenen Vorteil aufgebaut ist und alle einsehen, daß durch Unstimmigkeiten in der Gemeinschaft der Betrieb leidet.

Der wirtschaftliche Erfolg ist ein sehr guter. Gewollt ist niht eine neue Form eines wirtschaftlichen Unternehmens oder eine wirtschaftliche Reform, gewollt ist vielmehr in erster Linie eine Lebensreform, deren Ziel es ist: ein Leben in einer Gemeinschaft als Mensh besser und glücklicher zu leben und der Gesellschaft besser zu dienen. Es geht ihnen bei ihrem Gemeinschaftsleben darum, den Menshen zu heben, ihm alle Mittel zu seiner Entfaltung, besonders in geistiger Hinsiht, zur Verfügung zu stellen. Eine spezifische Erziehungsmethode wurde ausgebildet, die den eigenen Vorteil des einzelner aus seinem Fortschritt, an seiner inneren Entfaltung begründet. Die Mitglieder der Gemeinschaft haben sih selbst eine ausführliche Regel gegeben, die nah ihren eigenen Erfahrungen nah und nah aufgebaut wurde. Alle Bestimmungen sind einstimmig beshlossen und die Mitglieder darauf verpflihtet. Sie haben ein Minimum von Moral festgesetzt, das sih mit der natürlichen Moral deckt. Sie legen besonders großen Wert darauf, sih gegenseitig zu kennen, sih zu ahten und Liebe zu üben. Es wird von jedem verlangt, daß er ein Lebensideal habe, irgendeine bestimmte Religion oder philosophische Lebensauffassung, für deren Betätigung er entsprehend belohnt wird. Streng wird auf die gegenseitige Ahtung der religiösen Überzeugungen gesehen. Arbeit ist bei ihnen niht nur die beruflihe Leistung, sondern jede soziale Betätigung, auh das Lernen der Kinder in der Shule, die Teilnahme an Kursen und Versammlungen. In der Fabrik selbst werden Kurse für Philosophie, Kunst, Musik, Sport abgehalten, beruflihe, fachliche, sprahlihe, rednerishe Ausbildung wird gepflegt. Neun von ahtundvierzig Wochen- stunden gelten dieser kulturellen und sozialen Arbeit. Das Gemeinshaftsleben erscheint auf Grund ihrer Erziehungsmethode so fortgeschritten, daß die einzelnen Glieder zwischen Gemeinwohl und Privatwohl oder Privatvorteil keinen Untershied mehr sehen. Wir hatten Gelegenheit, die Familien in ihren Wohnungen zu besuhen und an den Versammlungen von Familiengruppen teilzunehmen. Wir verteilten uns auf die verschiedenen 16 Gruppen zu je zwei, um nachher die Erfahrungen gegenseitig auszu- tausdien. Übereinstimmend stellten wir einen verhältnismäßig hohen Lebensstandard (der Verdienst der in der Fabrik beshäftigten Mitglieder beträgt, wie erklärt wurde, ungefähr das Dreifache des Lohnes eines Arbeiters in einem kapitalistischen Unternehmen des gleichen Industriezweiges), ein gesittetes Wesen fest. Wir hatten den Eindrude, bei Intellektuellen zu sein. Sie machten den Eindruck glücklicher und zufriedener Menshen. Die Gemeinshaft besteht seit 1940.

Drei Ergebnisse boten sih uns Besuchern in Valence dar; die hier gelungene Überwindung des kapitalistischen Systems und aller sih aus ihm ergebenden üblen Folger. (Bereicherung und müheloser Gewinn sind in diesem Wirtshaftsgebaren ausgeschlossen), die Scheidung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist weggefallen und eine edle Form der Demokratie verwirklicht, die die Kraft der Gemeinshaft erkannt und in weitestgehender Weise sih zunutze gemacht hat.

Man darf in diesem Unternehmen den Auf brüh zu einer großen geistigen Um-

wälzung erblicken, die sich in Frankreich manchenorts vollzieht; die anfangs genannten Bestrebungen im Klerus dürften Ausläufer dieser Bewegung sein. Auch dort ist das demokratische Prinzip weitgehend zugrunde gelegt und die Kraft der Gemeinschaft in enger Gruppenarbeit erstrebt.

Barbu ist sich , seiner Revolution im höchsten Grade bewußt. Er ist daran, zwölf solcher Verksgemeinschaften aufzubauen und sie in einem höheren Verband zusammenzuschließen, den er die Cite (Gemeinde) nennt. Dieser Verband soll alle jene Funktionen übernehmen, denen die untergeordneten Gemeinschaften nicht entsprechen können. Sollte eine Reihe von solchen Verbänden entstehen, so müßten auch sie wieder in einer übergeordeten Gemeinschaft mit übergeordneten Funktionen zusammengeschlossen werden. Der Über- und Unterordnung soll das strenge Subsidiari- tätsprinzip zugrunde gelegt werden. Barbu will mit seinen Lebensgemeinschaften Zellen schaffen, aus denen eine neue Gesellschaftsordnung organisch herauswachsen soll, die ganz und gar auf Gemeinschaft aüfgebaut ist und daher eine Gemeinschaftsgesellschaftsordnung werden müßte. Etwa 50 solcher Gemeinschaften sind bereits in Frankreich vorhanden. Nach Barbus Muster sind auch in anderen Landern, besonders in Belgien, solche Gemeinschaften im Entstehen. Eine immerhin sehr beachtenswerte Tatsache! Ob Barbu den richtigen Weg gefunden hat? Drei Dinge sprechen für ihn: sein bisheriger Erfolg im kleinen, das organische Aufbauen auf der Familie und auf kleinsten Gemeinschaften, die aus Familien sich zusammensetzen, und das Subsidiaritätsprinzip.

Wie weit Barbu Erfolg haben wird, hängt durchaus nicht nur von der Richtigkeit seiner Ideen, vielmehr ebensosehr auch davon ab, ob sich genügend Menschen finden, die guten Willens sind, genügend Hochherzigkeit und Wagemut besitzen und sich ihrer Verantwortung als Pfadfinder einer großen Reform bewußt sind.

Barbu hatte bereits vor etwa zwei Jahren vor der gesetzgebenden Versammlung Frankreichs drei bis ins einzelne ausgearbeitete Gesetzesentwürfe vorgelegt, welche dies Arbeitsgemeinschaften gesetzlich anerkennen und fördern sollten. Er fand jedoch nicht Gehör.

Eine ausführliche Darstellung der Entstehungsgeschichte. der Struktur der Gerne.nscbaft und des Gemeinschaftslebens wird die Zeitschrift ,,Gloria Dei“ in der nächsten Februarnummer bringen.

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