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Digital In Arbeit

Die proletarische Solidarität

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Das Industriezeitalter führte aber zu solchen gesellschaftlichen Veränderungen, daß diese gesetzlichen Bestimmungen auf die Dauer nicht mehr aufrechterhalten werden konnten. Die Größe von Vermögen und Einkommen wurde bestimmend für die soziale Stellung des einzelnen; die Masse besitzloser Arbeiter wurde der Ausbeutung ihrer Körperkraft und Gesundheit bei unzulänglichen Lohnverhältnissen preisgegeben. Es kam zu dem vielschichtigen Prozeß der „Ver-proletarisierung“. Diese Nöte weckten ein ungeheures Solidaritätsgefühl unter den Betroffenen und den Willen zur organisierten Selbsthilfe.

Seit im Jahre 1867 die Vereinsund Versammlungsfreiheit verfassungsrechtlich garantiert wurden, forderten die Arbeiter durch Versammlungen, Presse und Petitionen die „Koalitionsfreiheit“. Eine große Demonstration vor dem Parlament im Dezember 1869 brachte die Entwicklung in Gang. Noch im gleichen Monat wurde eine Regierungsvorlage im Abgeordnetenhaus eingebracht, die im April 1870 Gesetzeskraft erlangte und als sogenanntes „Koalitionsgesetz“ heute noch gültig ist.

Koalitionsfreiheit nnd Streik

Die gegenwärtige Koalitionsfreiheit entspricht ganz dem herrschenden Geist der Zeit seiner Entstehung, dem Liberalismus. So wurde in den parlamentarischen Materialien ausgeführt, das Koalitionsverbot sei ein Eingriff in das Eigentum, denn die Arbeit sei eine Ware, über deren Preis der Eigentümer — also der Arbeiter — das freie Verfügungsrecht habe.

Von allem Anfang an war das „Koalitionsgesetz“ mit dem Streikproblem aufs engste verknüpft. So heißt es etwa im österreichischen Staatswörterbuch:

„Ihrer rechtlichen Natur nach zerfallen die Arbeiterkoalitionen In dauernde und vorübergehende. Die enteren sind nicht wie die letzteren gegen einzelne konkrete Unternehmer gerichtet und bezwecken nicht die Abänderung des Arbeitsverhältnisses in einem konkreten Talle, sondern sollen durch umfassende Organisation der Arbeiter ... durch Ansammlung von Kapitalien unter Hintanhaltung aussichtsloser und planloser Arbeitseinstellungen die von der Oberleitung der Organisation gebilligten einzelnen Streiks ihrer Mitglieder wirkungsvoll gestalten ...“

Selbstverständlich steht der Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer auch eine solche der Arbeitgeber gegenüber. Im österreichischen Koalitionsgesetz von 1870 ist folgendes festgelegt:

„Verabredungen von Arbeitgebern ... welche bezwecken, mittels Einstellung des Betriebes oder Entlassung von Arbeitern diesen eine Lohnverringerung oder überhaupt ungünstigere Arbeitsbedingungen aufzuerlegen; — sowie Verabredungen von Arbeitnehmern ... welche bezwecken, mittels gemeinschaftlicher Einstellung der Arbeit von den Arbeitgebern höheren Lohn oder überhaupt günstigere Arbeitsbedingungen zu erzwingen; — endlich alle Vereinbarungen zur Unterstützung derjenigen, welche bei den erwähnten Verabredungen ausharren, oder zur Benachteiligung derjenigen, welche sich davon lossagten, haben keine rechtliche Wirkung. Wer, um das Zustandekommen, die Verbreitung oder die zwangsweise Durchführung einer der bezeichneten Verabredungen zu bewirken, Arbeitgeber oder Arbeitnehmer an der Ausführung ihres freien Entschlusses, Arbeit zu geben oder zu nehmen, durch Mittel der Einschüchterung oder Gewalt zu hindern versucht, ist, sofern seine Handlung nicht unter eine strengere Bestimmung des Strafgesetzes fällt, einer Übertretung schuldig und von dem Gerichte zu bestrafen.“ Durch das Koalitionsgesetz ist in der österreichischen Rechtsordnung die Streikverabredung also nicht mehr verboten, aber rechtlich wirkungslos. Der Streik ist eine geduldete Erscheinung, ohne daß es deshalb schon zulässig wäre, von einem „Streik-recht“ zu sprechen, zumal die Rechtsordnung ihrem ganzen Wesen nach eine Friedensordnung ist, während der Streik eine Kampfmaschine darstellt, die den Frieden der Rechtsgemeinschaft stört.

Ein problematisches Koalitionsrecht

Die gegenwärtige Rechtslage wird aus den verschiedensten Gründen nicht als befriedigend empfunden. So das Sozialministerium für eine verfassungsmäßige Verankerung des Koalitionsrechtes ein, schlägt aber einstweilen in dem Entwurf zur Kodifikation des Arbeitsrechtes eine einfache gesetzliche Regelung folgenden Inhalts vor: 1. Alle Arbeitnehmer haben das Recht, sich zwecks Wahrung und Förderung ihrer Interessen zu vereinigen und dieser Zielsetzung entsprechend zu betätigen. 2. Abreden und Maßnahmen, die dieses Recht sowie die Betätigung von Vereinigungen im Sinne des Abs. 1 einschränken oder zu behindern suchen, sind verboten. Damit soll nunmehr offensichtlich ein Koalitionsrecht im eigentlichen Sinn geschaffen werden.

So begrüßenswert der Versuch einer umfassenden Kodifikation des Arbeitsrechtes und darüber hinaus auch einer zeitgemäßen Neuordnung des Koalitionswesens ist, birgt dieser Vorschlag doch mannigfache Fußangeln in sich. Im Entwurf der Kodifikation des Arbeitsrechtes wird nur ein Koalitionsrecht der Arbeitnehmer behandelt. Es ist aber fraglich, ob eine zeitgemäße Veränderung der Rechtslage ausschließlich zugunsten der Arbeitnehmer möglich ist, wenn nicht gleichzeitig entsprechende gesetzliche Neuregelungen auch für die Arbeitgeber erfolgen.

Aber auch vom Standpunkt der Arbeitnehmer sind die vorgeschlagenen neuen Formulierungen nicht ganz unproblematisch. Bisher waren als Koalitionen „Verabredungen von Arbeitnehmern, welche bezwecken, mittels gemeinschaftlicher Einstellung der Arbeit von den Arbeitnehmern höheren Lohn oder überhaupt günstigere Arbeitsbedingungen zu erzwingen“, verstanden; nunmehr ist von „Wahrung und Förderung der Interessen der Arbeitnehmer“ die Rede.

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