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Europas Uhren prüfen

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Seit Heinrich Ritter von Srbik seine vier Bände über „Die Deutsche Einheit” vollendet hatte, behandelte kein österreichischer Autor mehr das gewichtige Problem der deutschen Einigung in einem großen Werk. Allerdings sind inzwischen ungefähr 30 Jahre vergangen, und es gibt heute sicher mehr Gründe, den Sieg dės Nationalstaatsgedanken kritisch zu beurteilen. Bei aller Achtung für die vornehme Persönliehkeit Srbik enthält Franzeis Werk wenigstens zwischen den Zeilen auch eine Auseinandersetzung mit den Schlußfolgerungen des bedeutenden Wiener Historikers. Weit kritischer kann sich Franzi natürlich mit Bismarcks Behauptung befassen, daß bei Königgrätz die deutsche Uhr für hundert Jahre richtiggestellt worden sei. Die zahlreichen Stimmen der zeitgenössischen Publizistik zu den Folgen der Auflösung des Deutschen Bundes und der Ausschluß Österreichs aus Deutschland sind heute besonders interessant. Von allen sei nur Grillparzer zitiert: „Der Deutsche Bund war nicht schlecht von Haus, gab auch Schutz vor jeder Fährlichkeit. Nur setzte r etwas Altmodisches voraus: die Treue und die Ehrlichkeit.”

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Seit Heinrich Ritter von Srbik seine vier Bände über „Die Deutsche Einheit” vollendet hatte, behandelte kein österreichischer Autor mehr das gewichtige Problem der deutschen Einigung in einem großen Werk. Allerdings sind inzwischen ungefähr 30 Jahre vergangen, und es gibt heute sicher mehr Gründe, den Sieg dės Nationalstaatsgedanken kritisch zu beurteilen. Bei aller Achtung für die vornehme Persönliehkeit Srbik enthält Franzeis Werk wenigstens zwischen den Zeilen auch eine Auseinandersetzung mit den Schlußfolgerungen des bedeutenden Wiener Historikers. Weit kritischer kann sich Franzi natürlich mit Bismarcks Behauptung befassen, daß bei Königgrätz die deutsche Uhr für hundert Jahre richtiggestellt worden sei. Die zahlreichen Stimmen der zeitgenössischen Publizistik zu den Folgen der Auflösung des Deutschen Bundes und der Ausschluß Österreichs aus Deutschland sind heute besonders interessant. Von allen sei nur Grillparzer zitiert: „Der Deutsche Bund war nicht schlecht von Haus, gab auch Schutz vor jeder Fährlichkeit. Nur setzte r etwas Altmodisches voraus: die Treue und die Ehrlichkeit.”

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Sehr ausführlich befaßt sich der Verfasser mit dem militärischen Aspekt, ein Blickpunkt, der in vielen anderen Werken vorwiegend summarisch behandelt wird, wobei doch die engen Zusammenhänge zwischen Politik und Kriegsführung zu kurz kommen. Auch Bismarcks Plan eines Vernichtungskampfes durch Aufstachelung einer ungarischen Rebellion, unterstützt von im Schutz der italienischen Flotte gelandeten , Partisanen”, der Versuch des preußischen Staatsmannes, auch in Böhmen an nationale Gefühle der Tschechen zu appellieren, Bestrebungen, die ein für Bismarck blamables Ende fanden, werden im Rahmen einer Betrachtung aller Varianten des Krieges dargestellt. Ein Vergleich zwischen dem Verhalten der Prager und der Wiener Bevölkerung fällt sehr zugunsten der ersteren aus. Ob die Kritiker des Verfassers jetzt noch eine nationalistisch-chauvinistischtschechische Komponente in ihm entdecken werden, kann nicht ausgeschlossen werden.

Andere Kritiker werden wieder an der Behandlung der „Benedek-Le- gende” Anstoß nehmen. Eigentlich hat die ausführliche Biographie über den unglücklichen Feldzeugmeister aus der Feder des verdienten österreichischen Militärhistorikers General Oskar Regele zur Person Bene- defcs alles gesagt, aber die Benedek- Legende ist trotzdem noch nicht verklungen. Es wird immer übersehen, daß Benedek schließlich Jahre hindurch die Stellung eines Generalstabschefs der Armee bekleidete. Von einem Generalstabschef darf man doch erwarten, daß er auf jedem möglichen Kriegsschauplatz die Operationen leiten kann. Franzei weist sehr richtig auf den journalistischen Aufbau der Person Benedeks hin, ebenso auch auf dessen Manie, immer irgendeine Sonderstellung zu verlangen. Die Bedeutung der Be- nedek-Legende für die innenpolitische Entwicklung in Zisleithanien nach 1866 kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Für den Leser erfreulich ist es, daß auch der Feldzug im deutschen Bundesgebiet und an der Südfront in Italien, einschließlich des Seekrieges in der Adria, nicht nur durch Hinweise auf bereits vorhandene Generalstabswerke abgetan wird, sondern gerade auch vom Gesichtspunkt der politischen Bedeutung dieser Kämpfe und deren Ausgang eingehend behandelt werden.

Allerdings soll nicht - der Eindruck entstehen,; daß sich das Werk in der Darstellung der militärischen Ereignisse und Probleme erschöpft. Wichtig ist die Auffassung des Verfassers über die Freiheitskriege und die Behandlung der deutschen Frage am Wiener Kongreß. Wäre im Jahr 1809 den Erwartungen der österreichischen Kriegspartei entsprechend, eine deutsche Erhebung ausgebrochen, an deren Spitze der österreichische Kaiserstaat in der Lage gewesen wäre, Napoleons Macht wenigstens auf Frankreich zu beschränken, so wäre selbstredend beim Friedensschluß die deutsche Frage im Vordergrund gestanden und ihre Lösung wäre ein Kompromiß zwischen Österreich und den Kräften der deutschen Erhebung geworden. Tatsächlich wurde Napoleon aber nur durch eine große Koalition aller europäischen Mächte niedergerungen, die Lösung der deutschen Frage wurde daher ein Kompromiß mit allen Großmächten. Dabei hat Metternich wahrscheinlich die wirtschaftlichen Gegebenheiten unterschätzt; Preußens Verankerung im Rheinland mußte zwangsläufig die territoriale Vereinigung des Staatsgebietes zu einem besonders wichtigen Ziel der Berliner Regierung machen. Der Abschluß des deutschen Zollvereins war bereits eine Niederlage Österreichs, das Kriegsziel Österreichs im Jahr 1866 war ja nicht die „Vorherrschaft” in Deutschland, aber der Beitritt Österreichs zum Zollverein.

Besonders glücklich ist der Verfasser bei der Darlegung der politischen Tendenzen in der Welt der deutschen Literatur und Geistigkeit. Heute, nach mehr als einem Jahrhundert, läßt sich in der Zeit nach dem Wiener Kongreß eine vielleicht schicksalhafte Verschiebung des Interesses der deutschen öffentlichen Meinung vom Osten zum Westen feststellen. Herder war für lange Zeit der maßgebende „Entdecker der Welt der Slawen”; Goethe schrieb noch — in besonderer Verbundenheit mit Kaiserin Maria Ludovica — den „Westöstlichen Diwan”. Jedoch Heinrich Heine, nach Goethes Tod wahrscheinlich die einflußreichste Gestalt im Olymp der deutschen Dichtung, hatte sich ganz dem Westen zugewendet. Es begann die fatale Entfremdung zwischen dem Österreich des Vormärz und der gebildeten Welt in den Staaten des Deutschen Bundes.

Ein weiteres Problem der deutschen Einigung war die Spannung zwischen der tatsächlichen, realen Macht der Regierungen in den deutschen Einzelstaaten und den hochfliegenden Plänen aller politisch interessierten Persönlichkeiten der deutschen Gelehrtenwelt, der Publizistik und anderer Kreise des Bürgertums. Das Jahr 1848 sollte diesen Gegensatz besonders hervortreten lassen. Soweit nur einige Hinweise aus der imponierenden Fülle der dem Leser dargelesten Probleme. Franzeis Kritik trifft den im 19. Jahrhundert siegreichen Nationalstaatsgedanken; seiner Meinung nach hätte ein reformierter Deutscher Bund ein Ansatzpunkt für eine weitere Föderalisie- rung Europas ergeben. Nachdem man sich in unserem Jahrhundert um übernationale Gemeinschaft bemüht, ist dieser Gedanke sehr zeitgemäß. Franzeis Herz gehört dem alten Österreich. Gerade die Kritik beziehungsweise das eisige Schweigen, denen sein Werk begegnen wird, kann uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß seit Königgrätz nicht nur die deutsche Uhr, sondern auch Europas Uhr eine genaue Überprüfung benötigen.

„1866 — IL MONDO CĄSCA”. Das Ende des alten Europas. Von Emil Franzei, Verlaa Herold, Wien- München. Fünf Teile in 2 Bänden, 831 Seiten.

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