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Nach Stalingrad

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DER FISCH BEGINNT AM KOPF ZU STINKEN. Von Fritz Wöss. Paol-Zsolnay-Verlag, Wien-Hamburg.

616 Seiten. Preis 130 S

„Ich werde es überleben und heimkehren! Aber dann, dafür gebe ich mein Wort, kommt Stalingrad wieder auf die Tagesordnung.“ So keucht der junge, in Stalingrad gefangene Hauptmann Wisse bei einem mörderischen Nachtmarsch durch die Kalmückensteppe. Er überlebt mit einer Handvoll gefangener anderer Offiziere diese Nacht. Er überlebt auch die kommenden Tage, das Typhuslazarett und die folgenden Jahre russischer Kriegsgefangenschaft. Er kehrt in die Heimat zurück und er erfüllt sein heimliches Versprechen. Das Stalingrad-Buch des Österreichers Fritz Wöss, „Hunde, wollt ihr ewig leben?“ (vergleiche „Die Furche“, 5. April 1958), wurde ein voller Erfolg. Der Film zeigte schließlich — leider mit einigen Anleihen beim „Publikumsgeschmack“ — den Bericht des Hauptmanns Wisse vielen Zehntausenden.

Aber nicht um literarische Lorbeeren oder kommerziellen Erfolg ging es Wöss-Wisse. Sein Ziel war es vielmehr, entgegen allen Versuchen zur Findung neugermanischer Heldensagen, die Erinnerung daran wachzuhalten, wie bei und in Stalingrad der Wahnwitz eines einzelnen und die Initiativscheue der verantwortlichen militärischen Führer eine ganze Armee vor die Hunde gehen ließen: den Überlebenden zur Mahnung, kommenden Generationen zur Warnung!

Das ist dem Verfasser gelungen. Allein der Frontsoldat Fritz Wöss weiß auch, daß man den Topf am Feuer halten muß, vor allem in einer Zeit wie der unseren, die sich nur allzu leicht und allzu gern von den wirklichen Schicksalsfragen ablenken läßt.

Fritz Wöss schrieb also weiter: Vor einigen Wochen erschien das vorliegende Buch, in dem wir das Schicksal des Hauptmanns Wisse — es ist inzwischen allgemein bekannt, daß es das des Verfassers ist — nach Stalingrad verfolgen können. Neben dem Erlebnis- und Leidensbericht ist aber wiederum des Verfassers letztes Ziel, die Rechnung mit jenen zu begleichen, die er dafür verantwortlich hält, die Blüte einer Generation in dem großen Grab namens Stalingrad und in den vielen kleinen, unbekannten Hügeln, die die Gefangenenzüge östlich von Stalingrad säumten, geopfert zu haben.

Daß Fritz Wöss anschaulich und kraftvoll, wenn auch nicht immer stilistisch höchst vollendet, zu schreiben versteht, hat er schon in seinem ersten Buch bewiesen. In den Schilderungen von den großen Todesmärschen durch die Weiten Rußlands, denen die ersten Kapitel des vorigen Buches gewidmet sind, zeigt sich, daß sein Naturtalent des Erzählens inzwischen noch gewachsen ist. Etwas schwerer tut sich Wöss mit der Entwirrung der verschlungenen politischen Fäden. Ansichten von gestern und Einsichten von heute überkreuzen und verwirren sich bisweilen. Gewisse „Kriegsliteraten“ seien trotzdem gewarnt, Wöss vonschnell in ihre Reihen zu stellen. Ihnen, so wie manchem unserer alten Freunde aus dem Österreichischen Kameradschaftsbund, ist folgendes Memento ins Stammbuch geschrieben:

„Sie haben einen Bund der .Stalingradkämpfer' gebildet. Wenn sie darunter einen Bund von Männern verstehen, die den Wahnsinn des Krieges anprangern und für den Frieden kämpfen, gegen ein neues Stalingrad, so bin ich mit, jedem von ihnen, der es so meint, eines Sinnes und bereit, mit ihm diesen Kampf auszufechten. Wenn sie jedoch sich selbst als .Stalingradkämpfer' bezeichnen, um sich Lorbeerkränze zu flechten und in einem Veteranenverein an ihren .Heldentaten' zu begeilen, so kann ich sie nur bemitleiden. Sie haben aus ihren Erfahrungen nichts gelernt, und ich muß an ihr Gewissen pochen und sie jeden einzelnen fragen: .Hast du nicht anderen zuviel weggegessen, hast du dir nicht auf ihre Kosten Vorteile verschafft, warst du nicht zu feige? Wie viele deiner Kameraden sind für dich gefallen, erfroren, verhungert und gestorben, damit du lebst?' Und ich muß die lugend davor warnen, in solchen Männern Vorbilder zu Sihen. In Stalingrad gewesen zu sein war kein Glanz- und Heldenstückl Es war ein bitteres Schicksal, wie es gleich und ähnlich viele hunderttausend Soldaten, vor allem der Ostfront, ertragen mußten. Sooft ich an ihre Leiden denke, ist mir zum Weinen und nicht zum Feiern. Reden wir deshalb von uns nicht als „Stalingradkämpfer“, Die Kämpfer und Opfer sind in Stalingrad, so wie an den anderen Fronten, auf den Märschen in die Gefangenschaft und in den Lagern vor und hinter dem Ural geblieben. Danken wir Gott, daß er uns weiter bestehen ließ, und unseren Kameraden, indem wir ihr Vermächtnis erfüllen und für den Frieden, die Freiheit und Würde des Menschen kämpfen, damit ihr Sterben durch unser Leben und Wirken seinen Sinn erhalte.“ (S.179f.)

Wenn Wös die Auflösung aller Bande der Kameradschaft und oft auch den Verlust jeder Menschenwürde an der Spitze beginnen sieht — siehe auch den Titel des vorliegenden Buches! —. so geißelt er mit Recht die überraschende Kehrtwendung nicht weniger hoher Vorgesetzter und vieler fanatischer NSDAP-Anhänger in Feldgrau, die nun unter der roten „Antifa“-Fahne ihre alten Spiele mit kleinen Änderungen weiterspielen möchten. Wöss-Wisse bezieht inmitten des Lemurenreigens von Nationalsozialisten der letzten und Neokommunisten der ersten Stunde den Standpunkt des „Nur-Soldaten“. Daß auch dieser in einer Zeit, wo so viele Werte brüchig werden, anfechtbar ist, muß der Autor selbst erfahren. Freimütig leistet er dem Pfarrer Abbitte, dessen Beteiligung bei dem „Antifa“-Komitee er zunächst mit Entrüstung ablehnte, um dann zu erfahren, daß nicht zuletzt dadurch Wöss' Mutter, bevor sie die Augen für immer schloß, die Nachricht bekam, ihr Sohn lebe und werde heimkehren. Politisch von Interesse sind im „Antifa“-Kapitel dieses Erlebnisberichtes die positiven Zensuren, die der Verfasser einem kommunistischen Agitator wegen seines menschlich anständigen Verhaltens ausstellt. Als Staatssekretär der Regierung Renner und intellektueller Spitzenreiter der KPÖ ist derselbe später in Österreich allgemein bekannt geworden: Ernst Fischer (S. 481 f.).

Fritz Wöss hat eich also entschlossen, seinem Stalingrad-Buch einen zweiten Band folgen zu lassen, der uns von der Schicksalsstadt an der Wolga in die Weiten Rußlands bis in das Gefangenenlager von Elabuga führt. Jetzt muß er aber weiterschreiten. Drei Bände machen eine Trilogie. In dem abschließenden Band könnte Gelegenheit sein, nicht nur die noch ausstehende, in der Nacht der russischen Gefangenschaft nicht zu verlangende geistige Klärung vorzunehmen, sondern auch die Heimkehr der Überlebenden von Stalingrad — sie stehen weiterhin für eine ganze Generation! — sowie ihre Bewältigung der Gegenwart inmitten neuer Gefahren und alter Versuchungen zu gestalten. Das ist bis heute noch von niemandem angegangen worden. Fritz Wöss hätte ohne Zweifel das Zeug dazu.

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