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Ein Österreicher in Stalingrad

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„Lügen werden die, und alles totschweigen! Wenn ihr heimkommt, hinausbrüllen müßt ihr die Wahrheit, damit es alle erfahren.“ Mit letzter Kraft keucht diesen Satz ein unbekannter Soldat in einem mitten in der Schneewüste bei Stalingrad errichteten Notlazarett. Hauptmann Wisse, der gerade durch die Reihen der Sterbenden geht, bewahrt ihn gut in seinem Herzen. Als letzten Befehl von Stalingrad.

Fünfzehn Jahre später kann er der unübersehbaren Armee der in und um Stalingrad Gefallenen, Erfrorenen und Verhungerten die Vollzugsmeldung machen. In aller Stille hat Fritz Wöss — unschwer erkennt man, daß das Schicksal des Hauptmanns Wisse sein eigenes ist — neben einem nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft absolvierten späten Studium und seinem Beruf Seite um Seite geschrieben, bis das nun vorliegende Buch fertig war. Es kommt zur rechten Zeit. Denn gerade in den letzten Monaten haben wir erleben müssen, wie, allen voran das Sprachrohr der „alten Maschierer“, die „Deutsche Soldatenzeitung“, und in ihren Fußstapfen in Oesterreich — wie könnte es anders sein! — die „Neue Front“, die verblassende Erinnerung der Menschen dazu benutzt, um ein neues-'altes Phrasengewebe — „Thermopylen“ usw. — vor die historische Tatsache zu weben, daß in Stalingrad der Wahnwitz eines einzelnen und die rückgratlose, sich selbst zu mechanischen Befehlsübermittlern degradierende Initiativscheue der verantwortlichen militärischen Führung eine ganze Armee vor die Hunde gehen ließ.

Fritz Wöss räumt mit dieser neugermanischen Heldensaga radikal *uf. Wöss ist Oesterrcichcr. ■ AU junger Mittelschüler gehörte er dem „Studentenfrei-' korps“ an — einer vaterländischen Organisation, die zwar antinationalsozialistisch eingestellt war, aber, dem allgemeinen Leitbild der Jugendbewegung der dreißiger Jahre folgend, den Reichsgedanken und ein soldatisches Ethos pflegte. Der junge Soldat hat daher — in diesem Fall typisch für einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner Generation — keine besonderen Schwierigkeiten, sich bei einer klaren Distanzierung gegenüber allem, was NSDAP heißt, in die Deutsche Wehrmacht hineinzuleben. Wöss wird in diesen Jahren mit Feuer und Flamme Offizier — deutscher Offizier. Erst ein späteres Jahrzehnt läßt ihn zu seinem geistigen Ausgangspunkt zurückfinden. Das ist nicht unwesentlich. Als Wöss-Wisse sich in Charkow mit dem Befehl, als Verbindungsoffizier zur 20. rumänischen Division zu gehen, abmeldet, ist er ganz der forsche, junge, von aller Problematik dieses Krieges unbelastete Offizier. Auch als er ein halbes Jahr später als Gefangener von niemand anderem als Plivier verhört wird, fühlt er sich als deutscher Offizier — und nichts anderes. Mit dem Seydlitz-Komitee und den Antifa-Leuten hat er nie etwas zu tun gehabt. So wird sein Zeugnis unanfechtbar für alle Seiten — nicht zuletzt für die „alten Kameraden“, die rings um die schon erwähnte „Deutsche Soldatenzeitung“ siedeln, und ihre Geistesverwandten dieseits und jenseits des Inns.

Wöss geht es darum, auf Grund seiner eigenen Erlebnisse vor aller Welt festzuhalten, wie die 6. Armee einer Chimäre wegen an Stalingrad gebunden wurde und wie die verantwortlichen militärischen Führer entgegen besserem Wissen und Gewissen diesem Gang in das Verderben Vorschub leisteten. Ein „kleiner Offizier“ will sich hier keineswegs post festum als Stratege versuchen. Allein der Verfasser hatte gerade, als Verbindungsoffizier zu einer trotz al'er Beschwörungen von schweren Waffen entblößten rumänischen Division, gegen die sich am 19. November 1942 der Hauptstoß des südlichen Angriffskeils der Roten Armee richtete, genügend Gelegenheit, Augen und Ohren aufzutun. Mehrmalige Begegnungen bei Lagebesprechungen mit dem Oberbefehlshaber Paulus und seinem Generalstabschef ergänzten dieses Bild. Aber auch die Schicksale der einfachen geopferten Soldaten nahm er über den Umweg über die Gefangenschaft in die Heimat mit: erlebte Wisse-Wöss doch das Ende als Chef einer jener, euphemistisch „Kampfgruppen“ genannten, versprengten Haufen, die selten mehr als zwanzig oder dreißig Mann zählten. Detailbilder steigen auf, die Visionen eines Hieronymus Bosch und Höllen-Breugels nicht unähnlich sind. Und das alles ist erst fünfzehn Jahre her ...

Wöss, der bisher noch nicht schriftstellerisch tätig war, hat mit dem vorliegenden Buch, das weder einem utopischen Pazifismus huldigt, noch die wieder in Schwung kommende Mode der den zweiten Weltkrieg zu einem großen Abenteuer „ganzer Kerle“ umdeutenden Literatur mitmacht, eine Mutprobe abgelegt, die seiner soldatischen Vergangenheit Ehre macht. (Um die „helfende“, das heißt korrigierende Hand fremder Lektoren auszuschließen, entschloß sich der Verfasser sogar, den undankbaren Weg der Herausgabe der ersten Auflage im Selbstverlag zu gehen. Für die zweite, unveränderte Auflage .hat sich bereits der Zsolnay-Verlag interessiert, dessen Verbindungen dem Werk auch die ihm gebührende internationale Aufmerksamkeit sichern werden.)

P. S. An „Errata“ ist allein eine historische Verwechslung in der rumänischen jüngsten Geschichte zu berichtigen. Auf Seite 374 lesen wir: „Codreanu, der Führer der Eisernen Garde, hat gegen das Regime Antonescu einen Putschversuch unternommen und ist nach dessen Scheitern nach Deutschland geflüchtet.“ Zum Zeitpunkt der Erhebung der Eisernen Garde unter Horia S i m a gegen Antonescu am 21. Jänner 1941 war der Gründer und legendäre Führer der „Garda de Fier“ schon lange tot. Codreanu wurde mit dreizehn Gefährten am ?0. November 1938 nahe dem rumänischen Staats-fefängnis Jilava von Gendarmen König Carols „auf der Flucht erschossen“.

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