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Bis Stalingrad... (IV)

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Zwanzig Jahre sind es her, seit sich die Vision eines Nietzsche im Untergang der 6. Armee in Stalingrad erfüllte. Ist dieses ungeheuerliche Geschehen von den heute Vierzig- bis Siebzigjährigen, also von denen, die es miterlebten und die heute (noch) die Führungsschichte stellen, bewältigt, geistig und politisch verarbeitet worden? Es gibt hinsichtlich der Geschichte des zweiten Weltkrieges und besonders Stalingrads eine Art von Bewußtseinsspaltung. Wohl waren die Jahre unmittelbar nach dem Krieg für viele eine Zeit der ehrlichen Gewissenserforschung gewesen; in dem Maß aber, in dem (bei uns in Österreich etwa seit 1955) der wirtschaftliche Aufstieg uns wieder ein schöneres Leben brachte, wollen die meisten jede Erinnerung an die traurige Vergangenheit loswerden — so blieb ein eigentlicher geistiger Reinigungsprozeß aus; der höhere Lebensstandard verschüttete inzwischen wieder das 1943 bis 1945 geweckte politisch-sittliche Verantwortungsbewußtsein weiter Kreise.

Die politischen Gegner der Jahre vor 1938 waren einander im Gefangenenlager oder im KZ begegnet, der gleichen Problematik gegenübergestanden und zu weitgehend übereinstimmenden guten Vorsätzen gekommen, für den Fall, daß sie nach KZ oder Gefangenschaft noch einmal in der Heimat anfangen könnten ... Diese in der Zeit härtester Belastungen entstandene Kameradschaft über Parteien und Weltanschauungen hinweg hielt immerhin 20 Jahre und hält bei etlichen noch heute: Aber die Älteren, die damals alles mitmachten, treten nun allmählich ab, und bei manchen anderen scheint eine trügerische Geborgenheit jede Erinnerung an die böse Vergangenheit auslöschen zu wollen, satte Gleichgültigkeit läßt „die Besten ihrer Werke müde werden“...

Gerade jetzt, da ein neues Europa entstehen soll, können wir aber in den Schlüsselstellungen nicht müde Resignation und gedankenarme Stumpfheit brauchen, sondern, ganz im Gegenteil, durch viele Erfahrungen gereifte Persönlichkeiten mit Ideen, Verantwortungsbewußtsein und realistischem Wagemut. Freilich sind Männer mit Ideen — selbst wenn es gute Ideen sein mögen — unbequemer als brave Kopfnicker; auch die ganze Tendenz unserer Zeit ist gegen sie, sind doch die von wenigen Managern gesteuerten Massenkommunikationsmittel unentwegt bemüht, uns durch raffiniert gezielte Propaganda um unser selbständiges Denken und persönliches Entscheiden zu bringen. Das war nicht immer so gewesen: Wenn zum Beispiel zu Zeiten der alten österreichischungarischen Monarchie ein mit der örtlichen Kriegslage besser vertrauter Offizier zur Erkenntnis gekommen war, er müsse im Interesse seines Vaterlandes gerade gegen einen bestimmten Befehl von „oben“ handeln, so hatte er damals die legitime Möglichkeit dazu (Maria-Theresien-Ritter). Der Nationalsozialismus hingegen hat der Deutschen Wehrmacht das Rückgrat gebrochen; schon der Titel jenes Buches, aus dem wir in der letzten Nummer Paulus zitierten, bezeugt dies: „Ich stehe hier auf Befehl1“. Klarerweise muß in jedem Heer der Befehl gelten und befolgt werden — aber nicht bis zum sturen Kadavergehorsam; es kann in bestimmten Grenzfällen jener Punkt erreicht werden, an dem zwischen Befehl und dessen Ausführung das Gewissen des Soldaten zu treten hat, dann nämlich, wenn ein Befehl sinnlos geworden ist, wenn er sich über das Sittengesetz und die Menschenwürde hinwegsetzt.

Joachim Wieder stellt in seinem sehr lesenswerten Buch „Stalingrad und die Verantwortung des Soldaten“ dazu fest: „Die deutsche Tragödie von Stalingrad bietet einen sehr geeigneten Anschauungsunterricht dafür, auf welchen Irrweg das Soldatentum durch eine entwürdigende und verantwortungslose diktatorische Machtapparatur geführt werden kann und welche Vergewaltigung des menschlichen Wesens der totalitäre Krieg überhaupt mit sich bringen muß. Gerade die Sta-lingrader Schlacht ließ offenbar werden, in welch verhängnisvollem Aufmaß die Deutsche Wehrmacht damals als Instrument des nationalsozialistischen Machtwahns mißbraucht wurde und daß es ohne tiefes, umfassendes politisches Verantwortungsgefühl kein echtes Soldatentum geben kann . .. Die aus Rassenwahn und Herrenmenschentum erwachsene Überheblichkeit hatte zur Verkennung und Unterschätzung der Kampffähigkeit der Roten Armee sowie der wirtschaftlichen und moralischen Kraftquellen der Sowjetunion geführt3.“

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