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Digital In Arbeit

Rationalisierung und Arbeitsmarkt

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Vielleicht habe ich den Titel falsch gewählt, denn das Wort Arbeitsmarkt verleitet zu sehr, an eine Sache und nicht an den Menschen zu denken. Der Mensch, und das möchte ich hinzufügen, wird befremdlicherweise auf einem Markt statistisch erfaßt und auf einem Markt wie Güter und Geld in Hausse und Baisse gehandelt, gekauft oder beiseite geschoben. Sein Mindestwert ist im Kollektivvertrag festgelegt und richtet sich darüber hinaus nach Angebot und Nachfrage. Wenngleich auch die Nachfrage nach der Arbeitskraft heute, zumindest in den westlichen Ländern, enorm groß ist, übersehen wir, daß eine Bevölkerungsexplosion in allen übrigen Erdteilen sich beängstigend auf die Arheitsmarktlage von morgen auswirken wird. Im gleichen Atemzug geht aber die weitere Rationalisierung vor sich. Es gibt heute keine Frage und keine Diskussion mehr darüber, ob rationalisiert werden soll oder nicht. Die Frage ist vielmehr: Wie und in welchem Zeitraum?“ Die Frage muß aber gleichzeitig sein: „Wie wirkt sieh die Rationalisierung auf den Arbeiter aus, wie stellt sich der Betroffene, der Beschäftigte, dazu?“ Meiner Meinung nach besteht der große Fehler darin, daß man zu sehr abstrahiert. So wie das Wort „Arbeitsmarkt“ nichts über den Menschen aussagt, so sagt auch das Wort „Rationalisierung“ nichts darüber aus, was mit dem betroffenen Menschen geschehen soll.

Schauen wir heute in der Welt herum, dann erkennen wir beängstigende Entwicklungen. War wissen um die Übervölkerung — also um die Bevölkerungsexplosion — und gleichzeitig um die Tatsache, daß es außerhalb Europas kaum möglich ist, Millionen von jungen Menschen auf Arbeitsplätze zu bringen, weil diese Arbeitsplätze außerhalb des Wohlstandsgürtels einfach nicht vorhanden sind.

Aber auch für Europa gibt es erschreckende Perspektiven. Die Rationalisierung, die vom Gehirn her bestimmte Änderung der Industrialisierung erfordert heute schon den Arbeiter mit der besseren Ausbildung, den Arbeiter, der sich im neuen Maschinenraum zurechtfindet und der in der Lage ist, die komplizierte Maschine zu bedienen. Wie steht es mit seiner Ausbildung? Hier ist jetzt schon eine beängstigende Diskrepanz festzustellen, die leider von uns übersehen wird, jedoch erfreulicherweise von den Werktätigen selbst nicht Und ich darf hier auf die Maiereignisse von 1968 in Frankreich hinweisen, die gezeigt haben, daß die Arbeiterschaft nicht nur auf höheren Lohn allein erpicht ist, sondern ganz entscheidend darauf hinarbeitet, an der Vorbereitung des Produktionsprozesses beteiligt zu werden und Einfluß zu nehmen auf das Wie und Warum — und dies, um den negativen Folgen rechtzeitig begegnen zu können. Die Frage der Rationalisierung der Betriebe — das dürfen wir nicht übersehen — ist nicht eine Frage des Industriellen, des Betriebstechnischen, keine Frage auch der Betriebswirtschaft allein, sondern eine Frage des Sozialen, des Moralischen, des Menschlichen. Und wenn ich diese Momente zusammenfasse und weltweite Verbindungen herstelle, dann wird es sogar eine brisante politische Frage. Und aus dieser Ebene muß ein warnender Ruf in die Richtung des Managements erfolgen. Die Rationalisierung erfordert eine streng durchdachte Planung. Die Planung kann sich aber wirklich nicht nur auf das Betriebstechnische und das Wirtschaftliche an sich erstrecken, sie muß das Menschliche berücksichtigen! Die zukünftige Entwicklung darf nicht allein aus dem Blickwinkel des eigenen Unternehmens und aus dem eigenen Interesse herauskommen, sondern es ist unumstößlich notwendig, daß gleichzeitig die Wirkung verschiedener Entwicklungen auf verschiedenen Gebieten erkannt und demgemäß auch zeitgerecht studiert werden. Rationalisierung der Betriebe ist nur ein Teil des Gesamtbildes, und das darf heute nicht übersehen werden, wenn nicht tödliche Folgen auftreten sollen. Die Weltentwicklung ist rasant, und jeder von uns wird sicherlich die Erfahrung gemacht haben, daß auch der Zeitbegriff ein anderer geworden ist.

Aber wenden wir uns vom rein Theoretischen dem Praktischen zu. Das deutsche IFO-Insti-tut schätzte in der Zeit von 1950 bis 1958 eine Einsparungsquote oder Freisetzungsquote von sechs Prozent und für die Zeit von 1950 bis

1961 eine solche von 61/* Prozent. Nach dieser Untersuchung wurden in Westdeutschland

1962 eineinhalb Millionen Erwerbtätige durch Rationalisierung eingespart. Die Sozialwissenschaftler Lutz und Weltz untersuchten die deutsche Wirtschaft und konnten feststellen, daß in der Zeit von 1950 bis 1961 rund viereinhalb Millionen Arbeitsplätze in der deutschen Wirschaft durch Rationalisierung überflüssig geworden ind. Eine Untersuchung der Industrieentwicklung in der Bundesrepublik von 1954 bis 1964 zeigt, daß, wenn die Industrieproduktion von 1954 die Basis 100 darstellt, sie 1964 auf 194,8 gestiegen war. Hingegen ist die Zahl der Beschäftigten von 100 auf 129 gestiegen und die Arbeitszeit von 100 auf 85,4 je Arbeiter zurückgefallen. Dabei muß besonders hervorgehoben werden, daß die Beschäftigtenzahl 1962 130 gegenüber 100 im Jahre 1954 betrug und 1964 nur noch 129, also zurückfiel, obwohl die Produktion von 175,7 auf 194,8 gegenüber der Basis 100 von 1954 gestiegen ist. Das zeigt ganz eindeutig, daß bei weiterer Rationalisierung, trotz steigender Produktion, der Anteil der Arbeitnehmer prozentuell gegenüber den anderen Faktoren zurückfallen wird. Eine weitere Untersuchung zeigte, daß jene Industriezweige, deren Produktion sich am stärksten rationalisieren läßt, die größten Einsparungen an Arbeitskräften erreichten. So wurde in Westdeutschland festgestellt, daß die Industrie im Jahre 1950, um Waren im Werte von 1000 DM zu produzieren, mehr als 200 Arbeitsstunden benötigte. 14 Jahre später — 1964 — genügte schon weniger als die Hälfte dieser Zeit zur Erzeugung der gleichen Menge, zum gleichen Preis. Nach der Berechnung des deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung waren also für dieselbe Wert- und Warenmenge nur noch 85 Arbeitsstunden notwendig. Und diese Zahl wird, nach dieser Untersuchung, von verschiedenen Industriezweigen sogar noch weit unterboten. Danach kam der Fahrzeugbau mit 61 Arbeitsstunden, die chemische Industrie mit 33 und die tabakverarbeitende Industrie mit elf Stunden aus, also mit nur noch 25 Prozent der Zeit, die 1950 noch für dieselben Produkte im gleichen Wert gebraucht wurden. Selbst im Maschinenbau, wo die Maschine in geringem Ausmaß den Menschen ersetzen kann, brauchte man 15 Jahre später, also 1965, nur noch die Hälfte der Arbeitszeit von 1950. Unsere Aufgabe muß es demnach sein, nicht nur zu rationalisieren, sondern gleichzeitig muß das Wachstum der Wirtschaft zunehmen und die Arbeitszeit muß verkürzt werden, wenn wir nur annähernd die Zahl der Arbeitsplatz innerhalb der gesamten Wirtschaft erhalten wollen. Es steht somit außer Zweifel, daß es keine Rationalisierung ohne gleichzeitige Verkürzung der Arbeitszeit geben darf.

Eine weitere Untersuchung aus dem Jahre 1963 zeigt, daß die Rationalisierung in 21 Industriezweigen die Einsparung von 339.000 Arbeitern und 30.000 Angestellten nach sich zog. Von diesen 21 Industriezweigen hatten 16 steigende, 2 stagnierende und 3 sinkende Produktion. In 12 Fällen erfaßte der Beschäftigtenabbau mehr als fünf Prozent und im Extremfall sogar 20 Prozent. Das Beispiel Kohlenbergbau zeigt sogar, daß bei gleichbleibender Produktion 28,4 Prozent, das waren dort 182.000 Arbeitsplätze, eingespart werden konnten.

Diese wenigen Beispiele mögen demonstrieren — sie könnten ja beliebig fortgesetzt werden —, daß Rationalisierung unter keinen Umständen eine technische Angelegenheit der Betriebsführung allein sein kann, sondern daß sehr menschliche Probleme damit verbunden sind, die bei Nichtbeachtung ihre sozialen und politischen Folgen zweifelsohne nach sich ziehen .werden. Daraus folgt, daß bei allen Rationalisierungsmaßnahmen und deren Planungen der Faktor Mensch unter allen Umständen berücksichtigt werden muß. Darum ist dem gewerkschaftlichen Streben nach größerer Mitbestimmung im Betrieb, wenn schon nicht der Vorrang zu geben, so doch eine weitaus größere Beachtung zu schenken. Gleichzeitig muß auch auf arbeitsmedizinische, physiologische, psychlogische und soziologische Erkenntnisse Rücksicht genommen werden. Mit anderen Worten heißt das, daß die Rationalisierung, die von manchen leider im wesentlichen nur als ein technisches Problem angesehen wird, dies bei weitem nicht ist, sondern, wie diese Beispiele gezeigt haben, ein soziologisches, humanes, politisches, mit einem Wort ein gesamtmenschliches Problem. Rationalisierung und Arbeitsmarkt sind mithin keine Polarität, sondern der eine Begriff ist im anderen zu integrieren.

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