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Schweres Beginnen in Brussel

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Die ersten Pfarrherren des1 jungen Kaplans Cardijn in Brüssel sind nicht sehr erfreut über dessen Zuteilung: „Er scheint kränklich zu sein, und wird nicht viel aushalten.“ In zäher Kleinarbeit beginnt Cardijn seine Arbeiterjugendseelsorge. Von sechs jungen Arbeitern, die er 1912 zu schulen beginnt, fallen zwei im ersten Weltkrieg. Als Sechsundsechzigjähriger sagt er in einer Rede: „Ich habe am Anfang 13 Jahre nur Mißerfolge gehabt. Und selbst jetzt, nach 40 Jahren, fehlen mir Mißerfolge nicht. Es geht aber hier um eine Frage auf Leben und Tod für die Kirche. Also muß man daran glauben.“

Nur ein charismatischer Mensch kann wie Cardijn seinen ersten paar Getreuen prophezeien: „Wenn Ihr den Glauben habt, werdet Ihr die Welt erobern.“ Von den Getreuen der Frühzeit sind inzwischen einige belgische Minister geworden, andere, deren Namen in der Welt der KAJ geradezu legendären Ruf genießen, arbeiten führend in der Katholischen Arbeiterbewegung Südamerikas, im Weltbund christlicher Arbeiterbewe- . gungen, im internationalen christlichen Verband für Sozialtourismus. Pat Keegan, der erste Laiensprecher am Konzil, ist ein Cardijn-Schüler.

Die Katholische Arbeiterjugend (KAJ) ging 1925 über die Grenzen Belgiens hinaus. Beim Jubiläumskongreß 1950 waren im Heysel-Stadion in Brüssel 120.000 junge Arbeiter aus 53 Ländern anwesend. Bei der Romfahrt der Welt-KAJ 1957 waren mehr als 90 Länder vertreten. Heute wächst die KAJ Cardijns in mehr als 100 Ländern, mit dem Schwerpunkt dort, wo die Gefahr des Kommunismus besonders drohend ist.

Cardijn selbst ist nicht über' den Rahmen der Sorge um die Arbeiterjugend hinausgegangen, er hat aber seine besten Mitarbeiter für die Fortsetzung der Arbeit im Erwachsenensektor, für die Katholische Arbeiterbewegung, die KAB, die Ernte und das Ziel der Jugendarbeit, eingesetzt und zur Verfügung gestellt.

Es ist nicht ein Vielerlei von Ideen, die Cardijn in seinen zahlreichen Reden und wenigen Schriften immer wieder aufwirft; mit diesen wenigen Gedanken aber hat er ein weltweites Werk gebaut:

„Jedem Menschen, jedem Arbeiter und jeder Arbeiterin, senkte Gott Seine Freiheit ein, Seine Freundschaft, Seine Wahrheit, Seine Liebe, Seine Würde. Darum muß ein jeder gewissermaßen geachtet werden wie Gott selbst. Man kann Gott nicht achten, wenn man den Arbeiter, die Arbeiterin, Gottes Ebenbild, nicht achtet.“ („Die Schicksalsstunde der Arbeiterschaft“, S. 30 ff.)

„Der Arbeiter hat auch eine göttliche Berufung in seiner Arbeit. Ohne Arbeit gäbe,es keine Hostie, keinen Altarstein, keine Kirche, keine Religion.“

„Man muß der Arbeiterschaft ihre Berufung zum Apostolat klarmachen. Sie ist darin unersetzlich, und weder der Papst, noch der Bischof, noch der Priester, noch die Ordensleute können ihren Platz ausfüllen. Ohne den Arbeiter kann das Werk der Schöpfung und das Werk der Erlösung nicht vollendet werden.“

„Man muß der Arbeiterschaft eine Organisation, eine Bewegung geben, die es ihr möglich macht, ihre Sendung zu erkennen und zu verwirklichen. Ohne Arbeiterbewegung gibt es kein Heil für die Arbeitermassen, mag auch das Kreuz Christi bis zum Ende der Welt aufgerichtet dastehen. Papst Pius XI. hat mir gesagt:“,Ich kann wohl Enzykliken schreiben; aber ich kann die Lehre dieser Enzykliken nicht im Arbeitsvolk verbreiten, und ich kann sie nicht in der Arbeitswelt verwirklichen. Die Geistlichen können das auch nicht; dazu brauchen wir eine Arbeiterbewegung.' Diese Arbeiterbewegung muß auf lokaler, regionaler und internationaler Basis organisiert sein. Wenn das einmal der ganze Klerus begriffen hat, gäbe es keinen Kommunismus mehr.“

„Man muß der Arbeiterschaft Arbeiterführer, Arbeiterapostel geben. Sie dürfen aber nicht nur an der Spitze der Organisationen zu finden sein, sondern vor allem im Leben der Arbeiter.“

„Diese Arbeiterführer und Apostel muß man heranbilden, denn sie wachsen nicht von selbst wie die Pilze. Wenn man junge Arbeiter schulen will, darf man nicht damit anfangen, ihnen Vorträge zu halten. Das kommt später dran. Man muß damit anfangen, ihnen verantwortliche Aufgaben zu stellen. Verantwortungsbewußtsein ist die Grundlage jeder echten Bildung.“

„Es genügt auch nicht, einzelne Apostel zu formen. Man muß Gruppen bilden, die sich in ihrem Apostolat stützen.“

Die geistigen Konzeptionen Cardijns haben nichts Exotisches an sich,doch sind sie oft um Jahrzehnte der jeweiligen Zeit voraus:

Cardijn hat von Anfang an ein folgerichtiges spezielles Laienaposto-lat aufgebaut. Sein Werk fügt sich organisch in den mystischen Leib Christi, während anderwärts heute noch diverse Laienapostolatsbestre-bungen erst nach ihrer rechten Funktion suchen müssen.

30 Jahre vor der Bibelenzyklika „Divino afflante Spiritu“ (Pius XII., 1943) pflegt Cardijn schon die Bibellesung nach dem Auswertungsgrundsatz: Literalsinn, theologischer Gehalt, Lebenswert. Er faßt diese Grundsätze in die einprägsamen Worte zusammen: Sehen, Urteilen, Handeln. In der Aktivistenrunde schafft er eine ebenso einfache wie geniale Verbindung von Bibelbetrachtung und Arbeitstagung.

Seine Weitherzigkeit, seine dienende Liebe und sein Realismus zeichnen die Mentalität Johannes' XXIII. voraus, seine tiefgründende Auseinandersetzung mit der Realität der Welt und dem Konzil. Mit seinem Werk steht und fällt die Bewältigung der nächsten Zukunft durch die Kirche.

Vom Christusbild arbeitet Cardijn in feiner Einfühlung in die Mentalität des jungen Arbeiters mehr die Gestalt des großen Partners und Bruders (gegenüber der des absoluten Königs) heraus. Der begnadende Gott ist weniger der sich herablassende Herr, sondern mehr der uns berufende und adelnde Vater.

In gleicher Einfühlungsgabe weist Cardijn dem mit unbeirrbarem Realismus begabten jungen Arbeiter den induktiven Bildungsweg: Sehen 1ernen, mit offenen Augen alles — angefangen von den Alltagsdingen — beobachten; dann Urteilen; darnach Handeln. Dieser „Geist der Untersuchung“ ist eine Kardinaltugend des Kajisten. So ist es geradezu ein Erkennungszeichen für Arbeitstagungen im Geiste Cardijns, wenn sie eine Fülle von Problemen sehen und in Arbeit nehmen, während andere Gremien oft an geistiger Öde laborieren.

In Österreich kennen zehntausende junger und auch nun schon erwachsener Arbeiter Cardijn von Angesicht zu Angesicht. In Bombay ebenso. In Rio de Janeiro auch. Desgleichen in Afrika, Ottawa und Tokio. Cardijn hat sein Evangelium von der apostolisch-sozialen Sendung der jungen Arbeiter in fast allen Ländern selbst verkündet.

Nach Österreich kam die entscheidende Anregung für die Gründung der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ) durch belgische und französische, während des zweiten Weltkrieges zwangsweise arbeitsver-pflichtete Kajisten. Im Jänner 1946 wurde in einem“ zerbombten Gasthaussaal in der Pfarre Krim in Wien die erste CAJ-Gruppe gegründet. 1947 sprach Cardijn vor 60 Jungarbeitern in der Michaeierstraße 10 in Währing, wo ein erstes Sekretariat eingerichtet wurde. In Oberösterreich und Steiermark hatten sich Gruppen gebildet. Generaldirektor Richard Schmitz vom Verlag Herold half die Zeitung der CAJ, „Der junge Arbeiter“, aus der Taufe heben. 1948 gestaltete Cardijn in Linz die erste österreichische Studientagung der CAJ, die dann als eigenständige Gliederung in den Verband der Katholischen Jugend eingegliedert und in KAJ umbenannt wurde.

Anfang Mai 1954 sprach Cardijn in Anwesenheit aller Bischöfe vor 7500 Jungarbeitern — unvergeßlich für den, der dabei war — auf dem Sportplatz in Mariazell. Seine Sprache war ein (erst seltsam dün-kendes) Gemisch von 70 Prozent deutschen Worten und sonst flämischen oder französischen oder englischen Beimischungen: „Kajista, Sie sind gekommen in die Zuga und Ota-büsser nach Mariaschell...“ Als er aber beifügte: „Hören Sie nicht auf die Fehler meiner Sprache, sondern (,aber', sagte er) auf die Stimme der Liebe, die zu Ihnen spricht“, war alles in seinen Bann geschlagen. Rauhen Burschen standen die hellen Tränen in den Augen. Sie schämten sich sehr darob, und doch würden sie es sich nie verzeihen, wenn ihnen damals nicht die Augen übergegangen wären. Kardinal Innitzer umarmte nach dieser Rede Cardijn herzlich wie einen Bruder. Wer in den Städten Österreichs Cardijn damals nicht kannte, hätte ihn für einen Landpfarrer halten können, der in die Stadt gekommen ist, Besorgungen zu machen. Wenn er aber zu sprechen beginnt, ist er ein Vulkan, und was er sagt, klingt wie die Weihnachtsbotschaft des Engels am Hirtenfeld, und wie er es sagt, das sind immer wieder die Trompeten von Jericho.

Ob Cardijn an seiner Kardinalsernennung persönlich Freude hat, ist schwer zu sagen; er kennt nur seine Sendung und Aufgabe für die jungen Arbeiter der Welt. Für seine Jungarbeiter wird er der „Vater Cardijn“ bleiben. Der Kardinalshut wird sie weniger beeindrucken so wie vorher die neun Ehrendoktorate Cardijns und seine Berufung als Konzilsberater. „Vater“ ist mehr als „Eminenz“. Für Cardijns Werk ist der Titel Kardinal jedenfalls eine schöne Auszeichnung.

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