6545727-1947_14_04.jpg
Digital In Arbeit

Jungarbeiter-Internationale

Werbung
Werbung
Werbung

„Das größte Ärgernis des 19. Jahrhunderts ist, daß die Kirche die Massen der Arbeiterschaft verloren hat.“ (Pius XI. zu Cardijn). .

Die Frage nach der Uberwindung der Entfremdung, welche die Arbeiterschaft der Kirche fernhält, steht heute im Vordergrund. Eine Kirche die nicht alle sozialen Klassen umfassen oder gar nur den gesellschaftlich gesicherten das Heil bringen wollte, wäre nicht die Kirche Christi. Heute empfindet die katholisdie Jugend die Aktualität dieses Problems besonders brennend.

Wo in Brüssel die Häuserfassaden eng und grau in den Straßen hängen und wo die Not aus allen Fenstern und Türen schaut, dort ist Josef Cardijn als kleiner Lehrbub in einer Fabrik aufgewachsen. Als er von dort zum Priestertum gerufen wurde, ging sein alter Vater wieder in die Arbeit, um ihm das Studium zu ermöglichen. An seinem Totenbette gelobte der Sohn, sein

Leben in den Dienst der Arbeiterschaft zu stellen. Nach Jahren des Mißerfolges in den Industriebezirken Brüssels, in denen er immer wieder gezwungen war, neu zu beginnen, hatte Cardijn Muße, über die Probleme des Apostolats unter den Arbeitern nachzudenken, als er im ersten Weltkrieg von den Deutschen eingesperrt wurde, die ihn der Zusammenarbeit mit den Alliierten beschuldigten. In der Gefängniszelle skizzierte er die Organisation für junge Ar- , beiter. '

Im Jahre 1919 begann Cardijn wieder in seiner Vaterstadt, fünf Jahre darauf gründete er die KAJ. Der zehnte Gründungstag sah 100.000 belgische „Kajotters“ im Brüsseler Stadion und Vertreter aus vielen europäischen Staaten, aus Amerika, Afrika und Asien. Schon ein Jahr nach ihrer Gründung hatte die Bewegung der jungen Arbeiter in das Nadibarland übergegriffen, wo im Pariser Vorort Clichy mit sieben Mitgliedern die erste Gruppe gegründet wurde. , Zehn Jahre später war sie der mächtigste und bestorganisierte Jugendverband Frankreichs, besonders stark im industriellen Norden, wo auch van der Merschs „Menschenfischer“ handelt. In den Niederlanden konnte die Bewegung auf den schon seit 1912 bestehenden Verband .Jönge Werkman“ aufbauen. Im Jahre 1936 machten die 20.000 jungen Teilnehmer des ersten Kongresses der Welsch- Schweiz in Genf tiefen Eindruck auf den Völkerbund und das Internationale Arbeitsamt. Junge Theologen, die an der katholischen Universität in Löwen studierten, haben die Idee nach Portugal gebracht. Vor dem Bürgerkrieg noch konnte sie in Spanien Fuß fassen. Der Eucharistische Kongreß sah 25.000 junge Werktätige in Budapest. Lange schon stand das Sekretariat der katholischen Jugend Polens mit der Weltzentrale der KAJ in Brüssel in guter Verbindung. Als die Frage immer brennender wurde, wie sich die Katholische Aktion den Verhältnissen der jungen Arbeiter anpassen könnte, griff man auch dort die Kajottersmethoden auf. Erst kürzlich hörten wir Von der Aktivität der Gruppen in Warschau und in den Städten der Tschechoslowakei. In Zagreb und Ljubljana waren die ersten Gruppen der jugoslawischen KAJ gegründet worden. Vor mehreren Wochen berichtete ihr Vertreter auf einer internationalen Studientagung von ihrer -schweren Lage. Kurz nach Kriegsende führte Marcel van de Wiele, den Vorsitzenden des belgischen Verbandes, eine Vortragsreise durch Italien. Vertreter aus Dänemark, Litauen und der Ukraine hatten schon am Kongreß 1935 teilgenommen. Schweden, Rumänen und Griechen besuchen die Zentrale, um die Bewegung zu studieren.

Seit 1936 bestehen in den großen brasilianischen Städten Gruppen der katholischen Jungarbeiterbewegung. Im selben Jahr ist sie in Venezuela gegründet worden. „Juventud Obrera“ heißt ihre Zeitung in Argentinien. Ein Jahr vor Beginn des zweiten Weltkrieges hielten 10 000 Jungarbeiter und Jungarbeiterinnen Kolumbiens in Bogota ihren Nationalkongreß ab. Vorher schon hatte die Arbeiterjugend Mittelamerika die Methoden der Bewegung kennengelernt. Kanada ist es gewesen, das während der Besetzung Belgiens die Verbindungen mit den nationalen Organisationen aufrechterhalten hatte. Die Gründungen in Nordafrika und im Vorderen Orient gehen auf die Initiative des Pariser Generalsekretariats zurück. Britisch-Südafrika und Bel-gisch-Kongo sind schon seit dem ersten Jubelkongreß mit Brüssel in enger Verbindung. Auf Madagaskar ist die KAJ die stärkste Erziehungsorganisation.

In Indien, auf Korea und auf den Philippinen bestehen Gruppen. Kürzlich kam aus Schanghai die erste Meldung neuerlicher Tätigkeit der chinesischen KAJ. Durch den australischen Journalisten Mc Guire wurde der fünfte Erdteil mit C?rdijns Ideen bekannt. In Melbourne und Adelaide war man zuerst darangegangen, die Methoden den Erfordernissen des Landes anzupassen. Nach dem Krieg hielt die KAJ Australiens ihren dritten Nationalkongreß ab. Von den 200 Delegierten haben einzelne Wege von 3000 Meilen zurücklegen müssen. Von hier hat dann die Bewegung auf Dunedin (Neuseeland) übergeriffen. Schweizerische Missionare haben auf den Seychellen (Ozeanien) eine i Kajottersorganisation aufgerichtet.

Im vergangenen Sommer tagten 110 Abgeordnete aus 14 Ländern im Palais der schönen Künste in Brüssel, unter ihnen auch Jungarbeiter der österreichischen Gruppen. Brausender Jubel umfing Cardijn, als er das Podium betrat: „Die Arbeiterjugend beginnt ihren Sturmlauf! Die Grenzen der KAJ sollen die Weltgrenzen sein!“

Wie lassen sich diese Erfolge erklären? C?rdijn~ging von folgender Überlegung aus:

Die schulentlassenen Burschen und Mädel treten voll Freude und Erwartung in das Leben: endlich arbeiten, auf eigenen Füßen stehen. Welche Enttäuschung! Sklave der Maschine? Die Arbeit eine Last? Seelisch Gescheiterte geben die Antwort. In der Freizeit Jagd nach einem fremden, nie erreichbaren „Leben“. So schwindet allzurasch der Glaube an das Edle und Schöne .obwohl sie in einem christlichen Lande leben, christliche Schulen besucht haben oder gar aus christlichen Familien kommen. Generation um Generation derselbe Prozeß. Kein Lehrer, kein Priester folgt ihnen, sie sind auf sieh allein gestellt, dem Geist des Materialismus und des Heidentums ausgesetzt.

In jedem Menchen schlummert der Wille zu Leistung und Gestaltung, der Hunger nach Liebe und Gerechtigkeit, die Bereitschaft zu Opfer und Tat. Das Geheimnis des Erfolges der KAJ liegt darin, daß sie an die ungeahnten Möglichkeiten, die zutiefst in der Arbeiterklasse ruhen, glaubt. Sie weiß, daß der Jungarbeier während der 48 Stunden, die er vor seiner Drehbank steht, und in dem Kreis, in dem er die sieben freien Abende verlebt, geformt wird. Diese Umwelt kann nur durch den Arbeiter selbst geändert werden, der vom Eifer brennt, sein Leben zu gestalten. Stolz — rein — froh — erobernd, das ist das Gesicht des Arbeiters von morgen.

Was aber vermögen ein paar Jugendliche allein? Die schlagkräftige Organisation der

Jungarbeiterbewegung ist da zweite Geheimnis des Erfolges. Sie ist von den Jungarbeitern selbst aufgebaut und gibt ihnen da* Bewußtsein: wir sind die junge Arbeitergeneration, die sich aus eigener Kraft erhoben hat. Dieses Wissen verleiht ihnen die Kraft, durch das feindliche Milieu durchzustoßen in die Masse hinein, die sie lieben und die sie befreien wollen aus der Freudlosigkeit und dem Druck des Alltags. „Das erstemal, daß jemand kommt und sagt, i c h will die Masse g e w i n n e n“, rief Pius XI. bei Cardijns erster Audienz begeistert aus, „alle sagen: ich will eine Elite formen!“

Studienzirkel schlagen die Probleme vor, das nationale Sekretariat gibt die.Themen aus, die Ergebnisse, das Wie-Handeln gehen an dieses zurück, das nun die Maßnahmen für das ganze Land organisiert. Moderne Technik und Propaganda, Presse und Intervention, alles wird in den Dienst dieses einen praktischen Zieles gesetzt. So erkämpfte im Vorjahr die christliche Arbeiterjugend Frankreichs den Dreiwochenurlaub und die Vierzigstundenwoche. Kommt die Initiative von anderer Seite, wird die Mitarbeit nicht verweigert. Helfen ist ihr oberstes Gebot! „Die Marxisten haben recht, wenn sie Religion das Opium der Menschen nennen, wenn man mit ihrer Hilfe nur ein Glück im kommenden Leben anbieten kann. Das ewige Glück, das uns versprochen worden ist, muß schon in diesem Leben beginnen“, sagte Cardijn zu Londons Theologen. Die „Dienst e“ der KAJ sind den Bedürfnissen der Länder angepaßt. Hier, in der praktischen Hilfeleistung, vollzieht sich die Begegnung von Mensch zu Mensch, in die auch der Priester hineingestellt ist, Wenngleich nicht in der vordersten Linie. Der Priester ist vor allem der Freund und Hflfer, aber er zeigt ihnen Christus, den jungen Arbeiter, der die Not des Arbeiterlebens durchzustehen hatte, der freimütig und furchtlos die Wahrheit sagte, der uns alle gelehrt hat, was das ist: Gerechtigkeit und Sittlichkeit, Selbstlosigkeit und Kameradschaft, und uns allen die befreiende Botschaft gebracht hat: das Höchste ist die Würde des gottverbundenen Menschen. Das ist das dritte und tiefste Geheimnis der Erfolge der christlichen Weltarbeiterjugend.

„Die Jungarbeiterbewegung steht und fällt mit guten Priestern, die sie verstehen“, betont Cardijn immer wieder. Eingebaut in die Katholische Aktion, bewahrt die arbeitende Jugend überall ihre Aktionsfreiheit. „Die ersten Arbeiterapostel werden die Arbeiter selbst sein“, heißt es in „Quadra-gesimo Anno“ und Pius XII. sagte: „Ich wünsche für die Zukunft der Kirche eine starke internationale Organisation der christ-lichen Jungarbeiter in jedem Land.“

Nun, heute verfügt diese Arbeiterjugend über eine leistungsfähige internationale Organisation. „Es ist heute keine englische oder russische Frage“, sagt Cardijn, „in allen Kolonien, in Indien, im Kongo, in China... überall ist es dieselbe Frage.“ In ihrem Dienst steht die Welt — KAJ (flämisch: Katholieke Arbeidersjeugd), die sich in den Ländern englischer Zunge YCW (Young Christian Workers) nennen und JOC (Jeunesse Ouvriere Chretienne) dort, wo' französisch gesprochen wird. Im November 1945 wurde ihr Gründer vom Internationalen Arbeitsamt empfangen und überreichte ein „Statut der jungen Arbeiter“. Auf der „Conference Internationale du Travail“ in Montreal erschien Roger Mathieu, der Vonsitzende der kanadischen JOC, als Vertreter des internationalen Sekretariats und erreichte, daß die Konferenz beschloß, einen Vertreter der Welt-KAJ zuzulassen.

Der Präsident der französischen JOC, Roger Cartayrade, vertrat die christliche Welt-Arbeiterjugend Bei der UNESCO, als sie Ende November 1946 in Paris tagte. Patrick Keegan, der Vorsitzende der englischen Organisation, war Mitglied der Kommission zur Prüfung der Lage der deutschen Jugend. „Einheit in der Aktion soll und muß hergestellt werden“, schrieb Matthias Krippler, der Vorsitzende des luxemburgischen Ver- bandes, seinen österreichischen Kameraden. Mitte April wird Kanoniku- Jozef Cardijn, einer Einladung des „Katholischen Jugendwerkes Österreichs“ folgend, selbst nach Wien kommen.

Der Friede ist die Sehnsucht der Menschheit, der Friede der Völker ,der Friede der Klassen, der Friede in der eigenen Brust. Die Arbeiterjugend zeigt der Welt im Christentum den Weg zur Verwirklichung ihres Traumes.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung