6681178-1961_45_03.jpg
Digital In Arbeit

Sektion V: Gesundheits- oder Krankenpflege?

Werbung
Werbung
Werbung

Was hier dem naiven Laien auffällt, das ist die Beschränkung bzw. Isoliertheit unseres Gesundheitsdienstes von den tatsächlich ausführenden Organen unserer Krankenfürsorge, vor allem den Krankenkassen. Kein Zufall, daß bei dem einen von Gesundheit und bei der anderen nur von Kranksein die Rede ist. Jeder Krankenversicherte würde (wenn er nicht vor dem überfüllten Wartezimmer seines Kassenarztes überhaupt zurückschreckt) auf hocbgehobene Augenbrauen bei dem Arzt stoßen, wenn er zu diesem käme, ohne irgendwie krank zu sein, und aus purem Übermut eine Durchuntersuchung verlangte. Es geht noch bei Kindern, die bei den Schuluntersuchungen attrappiert werden. In bezug auf die Jugendlichen ergäbe sich bei den Assentierungen fürs Bundesheer die Möglichkeit von Durchuntersuchungen ganzer Jahrgänge. Aber diese Möglichkeit wird nicht ausgenützt, weil die Militärärzte nur an den Tauglichen interessiert sind und die als untauglich Erklärten wegschicken, ohne daß sich jemand weiter um sie medizinisch kümmert. Die Möglichkeit, daß sich Sozial- und Heeresministerium die Kosten für beide Kategorien teilen, scheint noch niemandem eingefallen zu sein.

Eine Möglichkeit (außer der eines national universellen Gesundheitsdienstes), um die große Lücke zu füllen, bestünde im Ausbau der Einrichtung der Betriebsärzte, die sich natürlich nur Großbetriebe leisten. Es könnten sich aber Gruppen kleiner Nachbarbetriebe zusammentun und gemeinsam einen Betriebsarzt für ihre Arbeiter und Angestellten unterhalten.

Sektion VI: „Trautes Heim —Glück allein”

Wenn heute zwei junge, mittellose Menschen heiraten wollen, dann müssen sie, was der Soziologe Schelsky „Schalterbewußtsein” nennt, in hohem Grade besitzen, um zu einer Wohnung zu kommen. Es werden hierbei zuweilen für die Demokratie wenig schmeichelhafte Vergleiche mit dem NS-Regime angestellt, dem es freilich auf den Zuwachs an Kanonenfutter ankam. Die Hauptschwäche unserer heutigen Wohnungsfürsorge ‘liegt in ihrer Zersplitterung. In den großen Städten, wo sie für Mittellose kommusterien, nämlich dem Innen- und dem Sozialministerium, gespalten ist.

Ein großes Manko in unserem Un- terrichtswesen füllt die Abteilung 32 der Sektion VI mit ihrer Schüleraus- speisungsaktion freilich nur für Landkinder aus, deren Heimweg von der Schule zu lange ist, als daß sie zeitgerecht zum Mittagessen nach Hause kommen könnten. Das Manko in unserem Unterrichtswesen besteht jedoch darin, daß angesichts der Doppelbeschäftigung vieler Eltern der heute vorherrschende Schultyp überhaupt die Tagesheimschule mit Schulmahlzeiten und Vollerziehung sein müßte.

Unter Slums werden in Österreich und so auch von der Sektion VI vor allem Barackenwohnungen verstanden, deren Räumung der Sektion obliegt. Noch viel zuwenig beachtet werden jedoch von ungleich größeren Menschenmassen bewohnte Viertel in Wiener Bezirken, in denen das Leben und Wohnen zuweilen viel trostloser und depravierender ist als in manchen, wegen ihrer grünen Umgebung viel gemütlicheren Barackensiedlungen. Dabei wäre die Humanisierung derartiger Viertel oft schon nur durch stadtgärtnerische Maßnahmen möglich.

22 Inspektoren gesucht

Das Zentrale Arbeitsinspektorat ist die siebente, wenn auch offiziell nicht so genannte Sektion des Bundesministeriums für soziale Verwaltung. Besonders sympathisch an ihr ist, daß fast alle ihre Beamten nicht im Ministerium, sondern draußen im Leben bei den Betrieben zu finden sind. Die meisten Inspektoren sind Diplomingenieure, und desgleichen auch seit eh und je der Leiter der Sektion. Der hohen fachlichen Anforderungen wegen — denen anscheinend keine den Angeboten der Privatindustrie gewachsenen Gehälter gegenüberstehen — sind in der Sektion derzeit 22 Dienstposten für Ingenieure vakant. Von den Inspektoren werden in der Tat nicht nur umfassende theoretische, sondern auch praktische Kenntnisse verlangt. So lernen sie zum Beispiel auch selber sprengen, um die Schutzeinrichtungen bei Steinbrüchen und dergleichen kompetent überprüfen zu können. Zum Stab der Sektion gehören auch Ärzte, Arbeitsmediziner, für die übrigens gleichfalls Posten derzeit frei sind. An erster Stelle der heute verbreiteten Berufskrankheiten stehen Hautkrankheiten (infolge der häufigen und oft regelwidrigen Verwendung von Kunststoffen), an zweiter Stelle steht die fürchterliche Silikose, die zu einer völligen Versteinerung der Lunge führt.

Das Arbeitsinspektorat hat eine gute, alte soziale Tradition. Insbesondere in Zeiten der Krise und des sozialpolitischen Stillstands oder Rückschritts, wenn manche Unternehmer auf die Einhaltung der Vorschriften des Arbeitsschutzes verzichten zu können glaubten, hat sich die Sektion als wirksames soziales Gewissen erwiesen, So führte ein Bericht des In- spektorats in der sozialpolitisch ziemlich trüben Zeit von 1936 dazu, daß die Regierung Schuschnigg öffentliche Lieferungen und Aufträge nur an Firmen vergab, welche die strikte Befolgung der Schutzvorschriften und weiterhin in eine inferiore Stellung gedrückt. Dem ist heute in beträchtlichem Maße nicht mehr so.

Ein weiterer Grund besteht darin, daß die gesamte Gesellschaft so viele wirtschaftliche, politische und militärische Katastrophen erlebt hat, daß die Mehrheit der Menschen soziale Sicherheit und die Garantie wirtschaftlicher Hilfe durch den Staat einer lediglich auf privater Grundlage beruhenden Existenz vorziehen. Damit ist heute ein Wandel nicht nur in den Anschauungen, sondern auch in der gesamten gesellschaftlichen Lage eingetreten. und die Sozialpolitik beherrscht das gesamte Feld wie nie zuvor. Gleichzeitig hat sich aber auch ihre Programmatik verändert. Die soziale Emanzipation der Arbeitnehmer wird immer vollständiger — soviel auch noch zu leisten ist. Anderseits sind aber neue sozial benachteiligte Minderheiten oder neue Sozialprobleme für die früher vor allem wirtschaftlich Ausgebeuteten entstanden.

Zu den ersteren gehören zum Beispiel die vielen familienlosen, älteren Frauen, deren Hauptproblem kein ökonomisches, sondern das ihrer Be- ziehungslosigkeit zur Umwelt ist.

Neben dem schon erwähnten Problem der als zu alt befundenen Arbeiter gibt es auch die Tragödie der zu früh oder zu abrupt in ein Dasein ohne berufliche Tätigkeit gestoßenen Rentner. Für sie werden besondere Arbeitsmöglichkeiten (zum Beispiel spezielle Älterswerkstätten), die ihren reduzierten Kräften durch eigene Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten angepaßt sind, zu schaffen sein, ln jedem Fall muß der Allmählichkeit des physischen und geistigen Rückgangs bei alternden und alten Menschen auf eine Weise Rechnung getragen werden, wie das bisher nicht geschah und zu zahlreichen Tragödien und auch zu den vielen Altersselbstmorden führte.

Da ist das noch viel universellere Problem der Rückführung des Arbeitnehmers zu seinem ureigensten Menschentum. Er ist diesem durch die moderne Produktionsweise entfremdet worden. Somit hat sich ein Problem, das früher ausschließlich als Problem des Kapitalismus betrachtet wurde,

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung