Die Sehnsucht der Vaterlosen

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In Familie und Gesellschaft sind alte, patriarchale Ordnungen passé. Heute sucht man nach neuen, lebensfördernden Formen von Autorität - und wird nicht leicht fündig.

Lang sind sie vorbei, die antiautoritären Zeiten, und nun kommen sie im Film wieder. Die Filmemacher von heute sind die Kommune-Kinder von damals - wie Marie Kreutzer mit "Die Vaterlosen“. Kommunen waren in den Jahrzehnten nach 1960 populär - suchte man doch nach neuen Formen des Zusammenlebens. Das lag, so der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich in seiner Analyse des "Wegs in die vaterlose Gesellschaft“, an den ökonomischen und politischen Veränderungen der Nachkriegszeit. Der Kulturwandel in den 1970er und 1980er Jahren hatte seine komischen Aspekte - wenn etwa in Markus Rosenmüllers Komödie "Sommer in Orange“ Urschrei-Therapie, freie Liebe und Kommune-Stress auf Blasmusik, Schützenvereine und das geordnete dörfliche Familienleben treffen - und ein kleines Mädchen, das gerne ein geordnetes Zuhause hätte, sich fragt, wo sie hingehört. Heute, dreißig Jahre danach können selbst ehemalige Baghwan-Anhänger über den Film lachen.

Ein Ende des Patriarchats?

In der zweiten Hälfte 20. Jahrhundert löste die Industrialisierung in Europa die immer noch starken Reste der alten feudalen Agrargesellschaften auf. Wie diese patriarchale Ordnung aussehen konnte, lässt sich in Hanekes Film "Das weiße Band“ betrachten. Da ist der Mann aus der Oberschicht, der Entscheidungs- und Züchtigungsgewalt über seine Untertanen hat - und dem auch seine vermögende und selbstständige Frau gehorchen muss. Oder wenn der Pastor mit seinen Kindern betet und dann den Sohn wegen Kleinigkeiten oder vermuteter Onanie mit dem Stock schlägt, tut er dies, um aus den Kindern ordentliche Menschen zu machen. Schließlich sei "die Familie die Keimzelle des Staates“ - und der Mann das Oberhaupt der Familie. Diese Autoritätsposition änderte sich erst ab Mitte der 1970er Jahre, als die UNO-Frauenkonferenzen klar stellten, dass der Gleichheitsgrundsatz für alle Menschen und daher auch für Frauen gilt - Stichwort: "Frauenrechte sind Menschenrechte“. Neue Gesetzgebungen schufen in Europa neue Relationen zwischen den Geschlechtern. Wie Rollen und Autorität in der Familie verteilt sind, muss seither neu ausgehandelt werden - ein Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist, und durch die ökonomische Entwicklung kaum unterstützt wird. Denn "die Familie“ steht, trotz vielerlei Behauptungen, nicht im Zentrum der Wirtschaftspolitik.

Der "Hauptmann von Köpenick“ alias Wilhelm Voigt (1849-1922), ein arbeitsloser und vorbestrafter Schuster, verstand genau, wie man Autorität einsetzt. Sonst hätte er es wohl nicht geschafft, am 16. 10. 1906 "auf allerhöchsten Befehl“ einen Trupp von 10 Mann Gardesoldaten in Berlin anzuhalten und per Bahn zum Überfall auf das Rathaus von Köpenick samt Amtskasse zu dirigieren. Der Zwischenfall löste internationales Amusement aus, und verschaffte Voigt - nach einer verbüßten Gefängnisstrafe - einigen Ruhm, der ihm zu einer gewissen Wohlhabenheit verhalf.

Dass der Coup funktionierte, kann nicht nur an der Uniform gelegen haben. Offenbar hatte der Schuster auch die subtilen Aspekte von Autorität angenommen, bestimmte Bewegungen, Blicke, Stimmlagen - das, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu als Habitus bezeichnet hat. Der Habitus, geformt durch soziale Klasse und Anteil an sozialem und kulturellem Kapital - also Studium, Titel usw., aber auch Beziehungen usw. - erzeugt charakteristische Verhaltens- und Denkformen, die den Anspruch auf Autorität auch nonverbal legitimieren. Es ist Alltagswissen, dass Lehrer, Manager oder auch Pfarrer einen bestimmten Gestus von Autorität in Sprache und Auftreten mitbringen, den sie selbst kaum wahrnehmen und auch nicht leicht ablegen können.

In der hierarchischen Gesellschaft Europas war - und damit spielte der arbeitslose Schuster - diese Form von Autorität weitgehend unhinterfragt. Die Industrialisierung jedoch erforderte besser ausgebildete Arbeitskräfte - und das veränderte die Gesellschaft. Die Industriegesellschaft, aber auch Demokratie beruht auf Wissensformen, die Erklären und Begründen voraussetzen, und auch auf der Fähigkeit, selbständig Fragen zu stellen und nach eigenen Antworten zu suchen. Unter anderem waren dies Voraussetzungen, die zur 1968er Bewegung führten. "Weg mit den Talaren, dem Muff von tausend Jahren“, skandierten Studenten damals. Gesucht war nicht nur eine demokratischere Universität, sondern vor allem eine demokratischere Gesellschaft, das heißt eine Gesellschaft, in der Autorität sich rechtfertigen und begründen muss, und in der die Rechte der Einzelnen gegenüber Obrigkeiten aller Art gewahrt werden.

Ambivalente Autoritäten

Neu war dies alles freilich nicht: z.B. "Summerhill“, das einflussreiche Modell von Alexander Neill für die sogenannte "antiautoritäre Erziehung“ war bereits in den 1920ern gegründet worden, in der besten Tradition der Reformpädagogik. Auch die Forderung nach Basisdemokratie war keineswegs neu - also nach Partizipation möglichst vieler an den Institutionen, Entscheidungsprozessen und der Autoritätsstruktur einer Gruppe. In der Praxis war dies ein Synonym für langwierige Prozesse des Aushandelns - Formen partizipativer Beteiligung müssen erst erlernt werden. Heute gibt es zwar funktionierende Modelle der Partizipation, wie z.B. die "Agenda 21“, mit der nachhaltige Entwicklung auf lokaler Ebene in Gang gesetzt werden soll, doch es fehlt oft der politische Wille, diese Neustrukturierung von Autorität zuzulassen. Die Studentenbewegung der 1968er war zudem höchst ambivalent: Zwar war man kritisch gegen Autorität, doch waren viele der Aktivisten selbst Mitglied in autoritären politischen Gruppen. Man lehnte die überkommene Autorität ab - und nahm für sich in Anspruch, die Autorität für eine neue Gesellschaft zu sein. Das war auch in der weniger politischen Hippie-Bewegung nicht anders. In "Sommer in Orange“ z.B. gebärden sich beide, die Orange gekleideten Sannyasins und die Trachtenträger gleichermaßen als Autorität. Die einen berufen sich auf die absolute Autorität ihres Gurus, die anderen auf die Autorität von Ordnung und Hierarchie.

Paradoxe Vorbildwirkung

Dem zielstrebigen Erstarken des Neoliberalismus ab Mitte der 1980er Jahre hatten weder Hippies noch 1968er viel entgegenzusetzen. Ein neuer Typ von Autorität entstand, die Manager (fast immer Männer) - die begründen ihr Tun zwar, doch mit einer sehr eingeschränkten Palette von "Werten“, wörtlich genommen. Denn handlungsleitend ist die Orientierung am Gewinn, am finanziellen Mehrwert. Auch diese Autorität hat paradoxe Vorbildwirkung - bei den Jugendunruhen in England z.B. nahmen sich die Kids die schönen Turnschuhe und teure Elektronik umsonst. Andere neue alte Wege suchen dagegen die spanischen "Indignados“ ("die Empörten“) - die Beteiligung möglichst vieler in sozialen Netzwerken. Gesucht sind jedenfalls lebensfördernde neue Formen von Autorität: Menschen, die Ziele vorgeben und Prozesse strukturieren können, aber dabei beziehungsfähig und empathisch bleiben und so in sich ruhen, dass sie auch über sich selbst lachen können.

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