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Niemand will etwas gemerkt haben. Ein oft zitierter Satz nach solchen Familiendramen wie dem jüngsten Missbrauchs-Fall in Amstetten. Und doch ebenso schwer zu fassen wie die Motive des Täters. Ein Erklärungsversuch.

Hinschauen wäre unerträglich, die leisen Zweifel im Innersten werden verdrängt, eine Welt für sich zurechtgebogen so weit und so lang es nur irgendwie geht. Nur damit ja alles so bleibt wie es ist. Und plötzlich steht man vor dem Scherbenhaufen dieser Welt.

In vielen Missbrauchsfällen, den vielen weniger spektakulären als den Inzestfall in Amstetten, wird es nach dem Psychogramm des Täters zur zweit brisantesten Frage: Wie konnte das direkte Umfeld, oft die Mütter oder Geschwister, (lange) nichts vom Missbrauch und vom Doppelleben mitbekommen?

"Durch Verleugnen bestimmter Zeichen oder Ereignisse; indem man das, was man sieht, in seiner Bedeutung nicht wahrhaben will", erklärt Mathias Hirsch, analytischer Psychotherapeut in Düsseldorf und Autor des Buches "Der reale Inzest, Psychodynamik des sexuellen Missbrauchs in der Familie" im Furche-Gespräch. Es sei nicht so sehr Verdrängung, im Sinne von Vergessen eines als schlimm empfundenen Ereignisses, sondern das "haarscharf darüber hinweg Schauen" über Zeichen, die einen auf die Spur bringen könnten.

Diese Frauen sind laut Hirsch wie hypnotisiert, richten sich alles in ihrem Kopf zurecht, sind von ihren Männern, die zu Täter werden, stark abhängig und leiden unter großer Trennungsangst. "Es ist ein Vogel-Strauß-Verhalten, man will es nicht sehen", sagt auch Josef Shaked, Psychoanalytiker in Wien. Der Mensch wolle eben sein inneres Gleichgewicht aufrechterhalten. Unerträgliches, das mit Furcht, Ekel, Scham behaftet sei, verdrängen, doch es hole einen immer wieder ein.

Holger Eich, Kinderpsychologe im Kinderschutzzentrum Wien, weist darauf hin, dass sich in solche Familien, in denen sexuelle Übergriffe geschehen, oft allmählich und eine lange Zeit davor bereits missbräuchliches Verhalten in vielfältiger Ausprägung einschleiche. Bei Missbrauch, wo der Täter von außerhalb der Familie kommt, würden Mütter daher Symptome klarer einordnen und eher reagieren. Nicht so in Familienstrukturen. "In vielen Fällen haben solche Frauen, die nichts mitbekommen, selber als Kind Missbrauch erfahren, haben einen blinden Fleck. Sie sind dann für diesen Bereich nicht mehr hellhörig, weil die Konfrontation mit dem Missbrauch des Kindes ihre eigene verdrängte Missbrauchserfahrung wieder an die Oberfläche befördern und großes Leiden mit sich bringen würde", erklärt Eich: "Männer, die selber als Kind missbraucht worden sind, neigen dazu, wenn das Trauma unaufgearbeitet bleibt, später selbst zu Tätern zu werden; Frauen wiederum, geraten oft unbewusst gerade an solche Männer, die gewalttätig und dominant sind, Angst und Schrecken verbreiten, Macht ausüben wollen und andere demütigen."

Eich erklärt auch das Verleugnen anhand eines Beispiels aus seiner Praxis: Ins Kinderschutzzentrum kam eine Frau ganz empört und berichtete von ihrem Verdacht, dass der Ehemann ihr Kind missbrauchen würde. Eine Woche später kam sie erneut und meinte plötzlich, sie habe es sich nur eingebildet, der Mann sei nur betrunken gewesen und habe sich daher im Zimmer verirrt. "Diese Frau hat damals begriffen, was es bedeuten würde, wenn sie ihren Mann anzeigt." Das soziale Umfeld würde darüber reden, man fürchtet die Schande, dazu kommt die ökonomische und psychische Abhängigkeit vom Mann.

Manche Frauen in Missbrauchsfällen würden von Leugnerinnen zu Mittäterinnen in extremer Form einer Co-Abhängigkeit, so die Experten: Sie arbeiten dem Täter bewusst oder unbewusst zu. Es spielten auch in manchen Fällen Mutter-Tochter-Rivalitäten mit, führt Eich aus. "Sie werfen der Tochter vor, ihr den Mann zu nehmen und solidarisieren sich mit dem Mann. Oder die Frauen sind froh, wenn der herrschsüchtige Mann sie ihn Ruhe lässt." Manche Frauen würden auch zu Täterinnen, indem sie an der "perversen Inszenierung" des Mannes teilhaben, weiß Georg Gröller, Psychotherapeut in Wien und lange im Kinderschutzzentrum tätig, aus seiner Erfahrung. Zum Fall in Amstetten meint er mit aller Vorsicht einer Ferneinschätzung: "Entweder es war dem direkten Umfeld bewusst und sie taten alle so als ob; oder sie wussten es wirklich nicht, dann war es eine noch großartigere psychische Leistung, ein noch stärkerer Zwang, nicht hinzuschauen. Das bedarf enormer Kraft, nicht zu wissen. Aber Vorstufen des Wissens, wie ungute Ahnungen, sind vorhanden."

Der Keller des Nachbarn

Das weiter gefasste Umfeld, etwa Nachbarn oder Verwandte, wiederum sind meist ebenso in einem Verleugnungsprozess, so die Experten. "Es ist ein Nicht-wahr-haben-Wollen und die Trägheit der Masse", meint Holger Eich, man will keinen Ärger. "Nicht selten wird dem Überbringer schlechter Nachrichten mehr zugesetzt als dem vermuteten Täter", erklärt Psychoanalytiker Hirsch und verweist auf einen Fall von Missbrauch durch einen Geistlichen, wo die Opfer, die Unruhe auslösen, beschimpft wurden und nicht der doch so beliebte Täter.

Doch wie Hinschauen, ohne zu sehr von Misstrauen getrieben zu sein, wie abwägen zwischen Zivilcourage und Anschwärzen? "Es wäre schon einmal gut, wenn die Gesellschaft bei alltäglichen Formen von Gewalt Zivilcourage zeigen würde, etwa wenn ein Kind in der U-Bahn geohrfeigt wird", meint der Kinderpsychologe Holger Eich und warnt vor übertriebener Hysterie oder Phantasien, was andere in Keller versteckt haben könnten. Die Psychoanalytikerin Rotraud Perner betonte gegenüber dem ORF, dass die Gesellschaft aus diesem Fall lernen werde, wie sie auch in den letzten Jahren zunehmend gegenüber sexuellem Missbrauch sensibilisiert worden sei.

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